Im Beichtstuhl erfährt Father James Lavelle von einem Mann aus seiner Gemeinde, dass dieser als Kind von einem Priester missbraucht worden sei. Der Täter sei längst verstorben, aber nun werde er, der Beichtende, am darauffolgenden Sonntag ihn, Father Lavelle, umbringen. Denn nur der Tod eines guten Priesters könne die gleichgültige Welt noch aufrütteln.
Der Film ist dialoglastig, intelligent und – grossartig
Filme mit Brendan Gleeson sind grundsätzlich sehenswert. Filme von John Michael McDonagh mit Brendan Gleeson sind spätestens seit dem grossartigen «The Guard» absolut unumgänglich. Aber «Calvary» ist in mehrfacher Hinsicht eine Überraschung: Der Film unterläuft die meisten Erwartungen. Er ist thesenhaft, dialoglastig, intelligent und – grossartig.
Der Titel «Calvary» ist eindeutig und programmatisch. Der Kalvarienberg steht in der katholischen Tradition für den Passionsweg, die Stationen des Leidens Jesu bis zur Kreuzigung. Der Film schickt seinen Father Lavelle auf einen solchen Passionsweg. Denn in der Woche vor seinem angekündigten Tod trifft er auf Menschen und Situationen in seiner Gemeinde, die stellvertretend die ganze Misere der orientierungslosen katholischen Kirche repräsentieren.
Der Atheist, der Ehebrecher, der Mädchenmörder
Father Lavelle diskutiert mit dem Atheisten, dem zynischen Arzt, der angesichts des Leidens seiner Patienten längst nicht mehr an einen guten Gott glaubt. Er setzt sich mit dem Suizidversuch seiner Tochter (Kelly Reilly) auseinander, denn Priester ist er erst als Witwer geworden. Weiter streitet er mit einem orientierungslosen, neureichen Ex-Banker, lässt sich von einem Ehemann verspotten, von dessen untreuer Frau und von deren Liebhaber. Und er besorgt einem alten, amerikanischen Schriftsteller (grossartig: M. Emmet Walsh) eine Pistole für seinen allfälligen Suizid. Denn, wie der Mann erklärt: Du bist wirklich alt, wenn niemand mehr in deiner Gegenwart vom Tod redet.
Father Lavelle ist nicht nur ein guter Mensch. Er ist auch ein guter Priester, einer, der sich auf alle Herausforderungen einlässt. Er hat ein offenes Ohr hat für jeden, selbst für den jungen Mädchenmörder im Gefängnis. Gleichzeitig lässt er sich in seiner moralischen Erdung nicht beirren. Er ist kein Dogmatiker, kein Vertreter der kirchlichen Autorität (von denen gibt es mit dem Bischof und seinem Co-Priester zwei besonders jämmerliche Exemplare zu sehen), aber er ist ein Mann Gottes und des Glaubens.
Der Film wird zur Passion – auch für das Publikum
Darum wird seine Woche der Unsicherheit und Herausforderungen auch für das Kinopublikum zur Passion. Wenn Father Lavelle für alle Vergehen, Versäumnisse und Verbrechen, die im Namen der Kirche in Irland begangen wurden, den Kopf und das Herz hinhalten muss, ist das schmerzlich. Das Dilemma, mit dem er leben muss, die Diskrepanz zwischen seinem Glauben und dem, was im Namen des Glaubens alles zerstört worden ist, ist plötzlich kein theoretisches mehr, sondern eine sehr kinogerechte Ausgangslage für packende Szenen.
Dass viel geredet wird und debattiert in dem Film, fällt auch darum kaum ins Gewicht, weil die Szenen organisch aus einer zusammenhängenden Gemeindegeschichte heraus entwickelt werden. «Calvary» ist zwar konstruiert wie ein Passionsweg in einer Kirche. Aber nicht mit nummerierten Tableaus, sondern als fliessende, zwingende und immer wieder auch urkomische Geschichte.
Publikumserfolg in Irland
Am Ende steht «Calvary» neben «The Guard» als eigenständiger Zwilling, als Ergänzung und Weiterführung einer persönlichen Passionsgeschichte eines zutiefst menschlichen Mannes, in beiden Fällen grossartig gespielt von Brendan Gleeson. Dass es McDonagh gelingt, den Zuschauer nicht nur in das unauflösliche Dilemma der irischen Geschichte mit der katholischen Kirche hineinzuziehen, ist schon ein Wunder für sich. Dass er uns gleichzeitig packt und beschämt mit dem Beispiel dieses Mannes, der sich weder vom Zynismus seiner Umgebung noch von der pauschalen Gleichsetzung der christlichen Ideale mit den Verbrechen der Kirchenvertreter beirren lässt und so weit geht, die Schuld aller anderen auf sich zu nehmen, ist ein Meisterstück.
Denn dieser Father Lavelle ist so real und so Fehler behaftet wie der zugleich korrupte und menschliche Polizist in «The Guard». Eine Figur aus Fleisch und Blut, kein Idealbild und schon gar kein Heiliger. In Irland ist «Calvary» zu einem Publikumserfolg geworden. Das dürfte niemanden wundern.