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Passanten in London, alle paar Meter steht eine Uhr.
Legende: Zeit ist Geld: Die unerbittliche Mahnung am Finanzplatz London. DJV

Film & Serien «Die ganze Gesellschaft ist auf Speed»

Aktienkurse, 24-Stunden-Nachrichtenportale und Smartphones: Der DOK-Film «Speed» zeigt, wie schnelllebig unsere Welt funktioniert. Der Ich-Autor überlegt dabei, wie wir vielleicht Alternativen finden können zu einer Welt mit dauernder Verfügbarkeit und digitalem Anschluss.

Ein verspäteter Zug: nahezu inakzeptabel. Eine nicht sofort beantwortetet Mail: eine Zumutung. Der Aktienkurs vor einer Minute: Schnee von gestern. Nachrichten, die nicht augenblicklich publiziert werden: kalter Kaffee.

Echtzeit. Erreichbarkeit. Jetzt. Schnell. Schneller. Dies sind die Schlagwörter, die unsere digitalisierte Welt prägen. In «Speed» geht der deutsche Filmemacher Florian Opitz diesen Schlagwörtern auf den Grund. Sein Dokumentarfilm zeigt unsere Gesellschaft, die zunehmend atemloser und beschleunigter wird – und trotzdem weniger Zeit für alles hat.

Zeitnot an sich selber beobachtet

Ein an eine Hauswand gemaltes Bild zeigt einen Mann mit Krawatte, der an beiden Armen eine Uhr trägt; dabei sind die beiden Uhren mit einer schweren Kette verbunden.
Legende: Gegen die Diktatur der Uhr: Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben an einer Berliner Hauswand. DJV

«Auf der Suche nach der verlorenen Zeit», untertitelt Opitz seine Dokumentation mit Proust. Aus der Ich-Perspektive erzählt er von iPhones, Tablets, Computern und wie sie sein Lebenstempo bestimmen.

Für ihn habe sich das Thema nur konkret über eine Person erzählen lassen, die selber beschleunigt sei, erzählt Opitz in einem Interview. «Ich wusste schnell, das kann nur ich sein, weil es ein Thema ist, welches mich selber umtreibt», sagt der Filmemacher. Ein Novum in seinem Filmschaffen, da er in den eigenen Produktionen seit 1997 bis anhin weder hör- noch sichtbar war.

«Wir schaffen uns selber ab»

In zahlreichen Begegnungen versucht Opitz, die Ursachen und Auswirkungen unserer chronischen Zeitnot zu erkunden. Dazu befragt er Zeit-Manager, Burn-out-Experten, Wissenschaftler, aber auch zahlreiche Akteure des globalen Finanzmarktes, die aus der Geschwindigkeit Kapital schlagen.

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Opitz macht unter anderem das Wirtschaftswachstum und den Wettbewerb für die Atemlosigkeit und Unzufriedenheit verantwortlich. Sie geben den Takt an und verändern das Zeitempfinden. In Anbetracht der zunehmend automatisierten Welt, in der Computer das Denken für Menschen übernehmen, konstatiert er zudem: «Wir Menschen schaffen uns selber ab.»

Das Glück wie in Bhutan?

Diesem Wirtschaftsmodell stellt der Autor weitere Begegnungen gegenüber: Banker, die den Ausstieg aus dem «Hamsterrad» gewagt und ihr Leben in der Natur entschleunigt haben; und Bauern, die einen ganz anderen Umgang mit der Zeit vorleben.

Opitz versucht aber auch Modelle zu zeigen, die über die individuelle Lebensführung hinausgehen. Bhutan ist ein solches alternatives Wirtschaftssystem. Das nicht wachstumsorientierte Land zwischen China und Indien ist weltweit der einzige Staat, der das Wohl seiner Bewohner als so genanntes Bruttonationalglück über die Verfassung stellt. Für Dasho Kama Ura aus Bhutan steht fest: «Glück ist, wenn die Menschen ihr Potential voll entfalten können.» Dazu gehöre auch, so der Intellektuelle, dass die Menschen über einen Grossteil der eigenen Zeit verfügen und die Dinge tun können, die ihnen wichtig sind.

Keine Patentrezepte

Tatsächlich zeigt Florian Opitz viele Alternativen zum derzeitigen Lebensstil auf – für das Individuum wie auch für die ganze Gesellschaft. Doch nicht alle können sich einen Ausstieg aus unserem System leisten. Und würden alle in den Bergen sesshaft werden, böten diese wohl bald keine Erholung mehr.

Gegen den Vorwurf, der Film sei plakativ, wehrt sich der Autor. Für ihn seien die verschiedenen Episoden «nie Patentrezepte», sondern Denkanstösse, aus denen jeder etwas mitnehmen könne.

Stringente Bildsprache

Opitz‘ Bilder sprechen eine klare Sprache. Der Anfang der Dokumentation ist von unzähligen Bildern, Collagen, Zeitraffern und schneller Musik geprägt. Go-Pro-Einstellungen, die ihn auf dem Fahrrad durch die Metropole zeigen, korrelieren mit der Nabelschau, die er bei sich selber feststellt. Der Kopf fühlt sich nicht nur an «wie in einem Flipperautomaten». Aus der Perspektive der Fahrradlenkstange sieht er im Grossstadtgetümmel tatsächlich so aus.

In der zweiten Hälfte dominieren ruhigere Bilder. Kommt Opitz also seinem Ziel näher, die Zeit für sich und die Gesellschaft wieder zu finden? Für ihn steht fest: «Eine Alternative besteht, wir müssen es nur wollen». Die Zeit wird weisen, ob es gelingt.

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