Mit ihrem Pagenschnitt erinnert Anja Plaschg ein wenig an Ingeborg Bachmann. Aber es ist die junge Frau von heute, die Schauspielerin und Komponistin, die ans Studiomikrofon tritt und, in Grossaufnahme, perfekt ausgeleuchtet und gepegelt, die fast 70 Jahre alten Briefsätze zum Leben erweckt.
«Wien, am 24. Juni 1949. Weil ich so gar nicht daran gedacht habe, ist heute deine Karte so richtig angeflogen gekommen, mitten in mein Herz. Ja, es ist so: Ich hab dich lieb, ich hab es nie gesagt, damals…»
Wüste und Meer
Damals, das war bloss ein Jahr früher, Ingeborg Bachmann, die Lehrerstochter aus Klagenfurt war 22 Jahre alt, Paul Celan, der Holocaust-Überlebende aus Czernowitz, der Dichter der «Todesfuge», war fünf Jahre älter.
Anja Plaschg liest: «Für mich bist Du aus Indien, oder einem noch ferneren, dunklen, braunen Land. Für mich bist Du Wüste und Meer. Und alles, was Geheimnis ist.»
Schnitt auf den Schauspieler Laurence Rupp, im gleichen Wiener Rundfunk-Studio: «Paris, 4. August 1949. Ingeborg, Liebe! Nur ein paar Zeilen, in aller Eile. Um Dir zu sagen, wie sehr ich mich freue, dass Du kommst.»
Noch sind die Sätze so einfach wie die Gedanken. Allenfalls irritiert der leicht aufwärtsgerichtete Blick von Anja Plaschg am Mikrofon.
Erst die nächste Einstellung zeigt, dass Rupp und Plaschg sich im Studio gegenüber stehen. Und er eben fast einen Kopf grösser ist als sie.
Wenn die Stimme versagt
Die grosse österreichische Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann hat die scheinbar einfachste Inszenierung einer Lesung gewählt, aber sie interessiert sich weniger für das Resultat, die perfekte Aufnahme, als für den Prozess.
Sie dokumentiert, wie die Schauspielerin und der Schauspieler mit den Brieftexten ringen, wie Anja Plaschg nach einem besonders traurigen Satz die Stimme versagt, sie mit den Tränen kämpft.
Wir sehen die beiden jungen Schauspieler bei der Rauchpause vor dem Studio. Die Komponistin Anja Plaschg erzählt ihrem jungen Kollegen vom Misstrauen, dass sie unter den Orchestermusikern ihrer Kompositionsarbeit gegenüber erfährt.
Beiträge zum Thema
- Briefwechsel: Ingeborg Bachmann, Paul Celan (Passage, 13.2.2009)
- Ingeborg-Bachmann-Wettlesen (Reflexe, 7.7.2014)
- Paul Celan: «Sprich auch du» (Lyrik am Mittag, 26.11.2014)
- Paul Celan: «Sprachgitter» (Gedicht am Morgen, 26.4.2013)
- Paul Celan (100 Sekunden Wissen, 23.11.2010)
- Ingeborg Bachmann: «Ein Geschäft mit ...» (Hörspiel, 12.12.2009)
- «Undine geht» von Ingeborg Bachmann (Hörspiel, 26.1.2008)
Sie reden über die berüchtigte «Beamtenmentalität» unter Profimusikern und darüber, wie schwer es ist, bei ihnen mit neuen Ideen anzukommen.
Heiliggesprochene Alltagsfratzen
Und schon spiegelt sich der Widerspruch zwischen bürgerlichem System und künstlerischer Freiheit wieder in den Briefsätzen, wenn Paul Celan am eigenen Erfolg verzweifelt:
«Manchmal kommt einem das Gedicht vor wie eine Maske, die es nur darum gibt, weil die anderen hin und wieder ein Ding brauchen, hinter dem sie ihre heiliggesprochenen Alltagsfratzen verbergen können.»
Worauf Ingeborg Bachmann, die Bürgerstochter, ihrerseits fast an der Verzweiflung des vom Holocaust geprägten Juden aus Czernowitz zerbricht:
«Ich weiss, dass Du mich verabscheust, und dass du mir zutiefst misstraust. Und ich bedaure dich. Denn ich habe zu deinem Misstrauen keinen Zugang.»
Tief im Text
Ruth Beckermanns Film macht mit einfachsten Mitteln die in den Briefwechseln versteckten Dramen erfahrbar, nachvollziehbar und verständlich. Und gleichzeitig behält er eine Leichtigkeit, die verblüfft und beglückt.
Indem wir zwei jungen Menschen dabei zusehen, wie sie den Briefwechsel für sich entdecken, interpretieren und mit ihrem eigenen Leben in Verbindung bringen, geraten wie tiefer in diese Text- und die Gedankenwelt, als wir uns je hätten träumen lassen.
«Die Geträumten» erwachen zum Leben.
Kinostart: 3.11.2016
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 3.11.2016, 17:06 Uhr.