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Unscharfes Bild mit rauchender Frau
Legende: Unschärfe lenkt den Fokus auf das Immaterielle, auf das Intuitive. (Ausschnitt aus dem Film «Atonement» 2007) SRF

Film & Serien Die Poesie der Unschärfe

«Wer das bewegte Bild auf reine Abbildfunktion und Anzahl Pixel reduziert, verkennt seine Möglichkeiten», sagt die Schweizer Filmwissenschaftlerin Tereza Fischer-Smid. Sie plädiert für die Poesie der Unschärfe.

«High Definition» ist das Stichwort beim Fernsehen, von «High-Frame-Rate» und «4k» spricht man bei neuen Kinofilmen wie «The Hobbit». Gerade dieser Film ist aber für seine extra scharfen Bilder kritisiert worden: Der Fantasy-Streifen von Peter Jackson kam in einem so realistischen Look daher, dass die Bilder für viele Zuschauer ihren Zauber verloren. Hat die Magie des Kinos mit Unschärfe zu tun?

Seit dem Aufkommen des naturwissenschaftlichen Denkens besteht der Wunsch nach genaustmöglicher Wahrnehmung der Welt. Mikroskope und Teleskope sollen die natürliche Sehkraft verstärken, uns eine glasklare Sicht auf das Universum ermöglichen. Wenn wir die Dinge des Lebens bis in ihre elementarsten Bestandteile auflösen, so die Idee, werden sich uns die Geheimnisse des Lebens offenbaren.

Mut zur Unschärfe

Dem Sichtbaren zu misstrauen riet hingegen Kult-Autor Saint-Exupéry und meinte: «Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.» Das Wesentliche, das oft jenseits des Gegenständlichen, jenseits des Sichtbaren liegt. Auf den zweiten Blick ist der Gedanke also gar nicht so paradox, dass ausgerechnet die Unschärfe das Unsichtbare sichtbar machen kann. 

«Wer das Bild auf reine Abbildfunktion und Anzahl Pixel reduziert, verkennt seine Möglichkeiten», sagt die Schweizer Filmwissenschaftlerin Tereza Fischer-Smid und plädiert für die Poesie der Unschärfe. Unschärfe zwinge uns, neu zu schauen. Sie verstellt uns die Sicht und übertölpelt den eingeschliffenen Alltagsblick. Unschärfe kann Sichtbares transformieren und transzendieren. Sie stellt unseren Realitäts-Begriff auf die Probe: Ist nur reell, was wir sehen, oder was wir subjektiv wahrnehmen?

Metaphysisches Schauen versus analytischer Blick

Kindliche Erinnerung: Der spielerische Versuch, mit dem Zusammenkneifen der Augen ein unscharfes Bild herzustellen. Denn der unscharfe Blick ist – mit gesunden Augen – als Alltagserfahrung fast nicht möglich. Immer und ohne unser aktives Zutun versucht unser Gehirn, alles scharf zu stellen. Immer versuchen wir, so gut wie möglich zu sehen.

Die Unschärfe im bewegten Bild gibt uns die Möglichkeit, das unscharfe Bild anzuschauen und als Ganzes wahrzunehmen. Metaphysisches Schauen, als Kontrast zum analytischen Blick.

Buchhinweis

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Tereza Smid, Poetik der Schärfenverlagerung, Zürcher Filmstudien [29], Schüren Verlag, 2012.

«In diesem metaphysischen Schauen», so Tereza Fischer-Smid, «geht es darum, dass wir den Sinn des Sehens   übersteigen und andere Sinne involviert werden.» Unscharfer Bildraum wird zum Stimmungsraum, Bedeutungsmöglichkeiten tun sich auf. Unschärfe lenkt den Fokus auf das Immaterielle, auf das Intuitive. Und bringt uns so dem Geheimnis des Lebens möglicherweise näher als jede technische Innovation.

Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen: Manchmal müssen wir Profanes ausblenden, um Wesentliches im Blick zu behalten. Misstrauen wir dem Sichtbaren: Schärfen wir unseren Geist, nicht unsere Bilder.

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