Die Wichtigkeit von Agnès Varda liegt nicht nur darin, dass sie die einzige Filmerin der französischen «Nouvelle Vague» ist. Auch der Goldene Löwe des Filmfestivals von Venedig und ihre insgesamt 37 internationalen Preise machen sie nicht einzigartig. Es sind ihre ganz persönliche Lebensauffassung, ihr Zugriff zur Kunst, zur Literatur und zum Kino und ihre unverwechselbare filmische Handschrift, die sie zu jener hervorragenden und ausserordentlichen Filmautorin machen.
Prägende Figur der Nouvelle Vague
Das Werk von Agnès Varda lässt sich nicht in die gängigen Filmgenres einordnen. Varda ist eine der prägenden Figuren der sogenannten «Rive Gauche» der französischen Nouvelle Vague. Sie verfolgt – anders als die Nouvelle-Vague-Gruppe um Godard und Chabrol – eher ein künstlerisches und selbst-expressives Kino und fühlt sich auch dem Dokumentarfilm und dem experimentellen Zugriff des Nouveau Roman verbunden.
Während Chris Marker seine innovativen Dokumentarfilme schuf, Alain Resnais von surrealistischen Bildern fasziniert war («Letztes Jahr in Marienbad») und Agnès Vardas Ehemann Jacques Demy moderne französische Musicals machte («Les Parapluies de Cherbourg»), fokussiert Agnès Varda darauf, einen Selbstausdruck als Künstlerin zu finden und hält die Kamera wie einen Schreibstift in der Hand.
Das Bild als Gefühl
Ihr selbst so definierter Begriff und Zugriff der «Cinécriture» zieht sich sichtbar von ihrem Debüt-Film «La Pointe-Courte» (1955) bis zu ihrem bislang letzten Werk durch. Sie ist eine Filmemacherin, die eher instinktiv arbeitet und sich, auch dank ihres Selbstvertrauens, auf ihre starke Erzähllogik abstützt, auf ihr grossartiges Verständnis dafür, wie man mit dem Publikum über das Bild kommunizieren kann, ihre Vorstellungskraft und: ihr freies Herz.
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Die gelernte Fotografin kümmert sich nicht um traditionelles Storytelling, sondern nutzt lieber die Möglichkeiten einer Kamerabewegung, um ein Gefühl oder ein Bild auszudrücken, ganz so als wäre es ein literarischer Text. Sie ist eine Meisterin im Zeigen und Verbergen, um Spannung zu erzeugen. Sie glaubt dabei nicht an die Trennung der verschiedenen Rollen beim Filmemachen wie Drehbucharbeit, Regie, Montage oder Kamera. Sie macht, definiert und überwacht stets alle Schritte selber, sodass am Ende ein Werk da ist, das genau dem entspricht, was sie auf der Leinwand zeigen will.
Sex, Freiheit, das Alter und gesellschaftliche Tabus sind Hauptthemen in ihrem Werk. Gleichzeitig wird ihr Schaffen von einem tiefen Respekt gegenüber ethischen Fragen, der Familie und Werten wie Verbindlichkeit, Loyalität und Treue getragen. Dieser Respekt etwa in der Paarbeziehung zeigt sich am stärksten in ihrem Film «Elsa la rose» (1955), einem kurzen Dokumentarfilm über das Leben und die Liebe des Schriftstellerpaars Louis Aragon und Elsa Triolet.
Im Spiegel zeigen sich Konflikte
In einer stattlichen Zahl von Vardas Filmen spielen Spiegel eine wichtige Rolle. In ihrem Film «Mittwoch zwischen 5 und 7» («Cléo de 5 à 7») ist der Spiegel ein tragendes Element der Erzählung und zeigt die psychologischen Konflikte der Charaktere auf. Der Spiegel wird von Agnès Varda manchmal auch für das Porträt genutzt, wenn sie etwa das Gesicht einer Figur darin einfängt und umrahmt.
Die ersten Sequenzen des Films «Les plages d’Agnès» (2008) können als Rückblick auf alle Spiegel gelesen werden, die Varda in ihren Filmen eingesetzt hat. Weit entfernt von der klassischen Funktion dieses Objektes nutzt Varda den Spiegel als kreative Möglichkeit, um über Erinnerung, über Gefühle, Sinn und Persönlichkeit zu reflektieren.
Deneuve und Depardieu
Mehrere Superstars und grosse Schauspieler des französischen Kinos haben ihre ersten Schritte in Agnès Vardas Filmen gemacht: Philippe Noiret verdankt ihr seine allererste Filmrolle, Gérard Depardieu seine erste wichtige Rolle. Auch Catherine Deneuve und Michel Piccoli und viele weitere begannen bei ihr. Nebst den professionellen Filmschauspielern waren es Personen wie Jean-Luc Godard (in «Cléo 5 à 7»), die als Schauspieler in ihren Filmen auftreten.
Ein weiteres Kernelement ihres Schaffens ist das Integrieren von realen Szenen und realen Menschen in ihre Filme. Diese Art zu arbeiten ermöglicht es den Schauspielern, sich ihren Figuren noch näher und realer verbunden zu fühlen. Wie in keinen anderen französischen Filmen sind deshalb auch ihre Aufnahmen der Stadt Paris so berührend, voller Wahrheit und Wärme.
Vardas Kino ist ein Kino der Erinnerung, der Sehnsucht – eine Liebeserklärung an das Leben und an liebenswerte Menschen. Jeder ihrer Filme kann so für die Zuschauerinnen und Zuschauer auch zum Spiegel werden. Zu einem Spiegel ihres Lebens.