«Angst oder Liebe» – so lautet der Untertitel des Films «Alphabet» von Erwin Wagenhofer. Der Österreicher, der wie sein amerikanischer Kollege Michael Moore Missstände aufdeckt und dabei trotzdem unterhält, setzt in seinem neuen Film auf Rhetorik.
Angst oder Liebe? Vor diese Wahl gestellt, entscheidet man sich für letzteres. Sollte man meinen. Wagenhofer belehrt uns eines Besseren. War es in «We Feed the World» die korrupte Essensindustrie und in «Let’s Make Money» das marode Finanzwesen, so nimmt der Filmemacher sich diesmal das Bildungssystem vor und zeigt auf, wie sehr es von Angst durchdrungen ist.
Das sitzt und erschreckt
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Seine These ganz zu Anfang lautet: «98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2 Prozent». Das sitzt. Das erschreckt. Das weckt aber auch Neugier. Denn Wagenhofer – und das unterscheidet ihn von seinem amerikanischen Kollegen Moore – interessiert sich für die Themen und die Menschen dahinter.
Er entwirrt komplizierte Machtstrukturen und konfrontiert uns mit harten Fakten. Er zeigt, dass gerade das von uns als gegeben Wahrgenommene alles andere als normal ist. Wagenhofer gibt sich nicht mit persönlichen Betrachtungen zufrieden. Selbst wenn seine Filme äusserst subjektiv sind und eindeutig Stellung beziehen.
«Mein Leben ist die Schule»
Der österreichische Dokumentarfilmer fokussiert nicht nur auf das europäische Schulsystem. Er begleitet Andreas Schleicher, den Erfinder des PISA-Tests, auf seinen Stippvisiten durch chinesische Schulen. Dort lernen wir Qu Pei kennen: Sein Tag hat 15 Stunden, in denen der 11-Jährige beinahe ausschliesslich lernt. Stolz zeigt die Grossmutter goldene Medaillen, die Qu Pei bei der Mathematik-Olympiade gewonnen hat. Er selbst wirkt vollkommen erschöpft. China liegt im Pisa-Ranking an erster Stelle.
Eine weitere Station Wagenhofers ist Österreich. In Kitzbühel ermittelt die Unternehmensberatungsfirma McKinsey jährlich den «CEO of the Future». Wagenhofer trifft auf Wettkampf und Konkurrenzdenken unter den Firmenchefs von Morgen. Eine Hamburger Gymnasiastin spricht in die Kamera: «Jeder weiss, dass die Schule nicht das Leben ist. Mein Leben aber ist die Schule, was heisst, dass da etwas falsch gelaufen sein muss.»
Am Anfang ist die Angst
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Den Grund für das, was falsch läuft, sieht Wagenhofer in der Angst, die uns alle beherrscht. Angst davor, ausgeschlossen zu werden, unseren Platz in der Gesellschaft zu verlieren. Ein Platz, der sich durch Leistung definiert. Und Angst, aus dem Vorgegebenen auszuscheren.
«Alphabet» spürt den Ursprüngen dieser Angst und deren fatalen Auswirkungen nach. Der Film zeigt aber auch Alternativen: Wagenhofer findet sie in Frankreich bei der Familie Stern. Die eigenen, inzwischen erwachsenen Kinder, schickten die Sterns in keine öffentliche Schule, unterrichteten sie aber auch nicht Zuhause. Sohn André, inzwischen selbst Vater, tut es seinen Eltern gleich. Denn: Das Kind lernt von allein und muss dazu nicht angeleitet werden, so die Überzeugung.
Ein globaler Rundumschlag
Wagenhofer holt zu einem globalen Rundumschlag aus – und zu grossen Teilen gelingt es ihm, die als selbstverständlich hingenommenen Umstände clever zu hinterfragen. Doch die angebotenen Lösungen bleiben im Film oft nur vage.
Auch das gleichnamige Buch, das Wagenhofer als nötige Ergänzung zum Film sieht, gibt keine weitere Auskunft hierzu. Zwar heisst es im Vorwort, die einzigen Voraussetzungen, die nötig sind, um die gegenwärtigen Strukturen zu ändern, seien Zuneigung, Respekt und Vertrauen, keinesfalls aber Geld oder der hohe Bildungsgrad der Eltern. Ein Kind heranwachsen zu lassen, ohne Zwang, ohne Angst, liege im Ermessen des Einzelnen, nicht in den Umständen. Dies bleibt jedoch auch im Buch Behauptung, ebenso der leere Slogan: Jeder kann etwas ändern, wenn er nur will.
«Wir sollten uns selbst die Zeit schenken, unsere Annahmen neu zu überdenken.» Zu diesem von Wagenhofer erklärten Ziel regt der Film dennoch an: Vielleicht nicht gerade die Schule in Brand stecken. Dafür aber ihre Mechanismen und Strukturen einmal mehr in Frage stellen.