Ausgerechnet Gelsomina heisst die Hauptfigur von «Le meraviglie» – wie die Heldin in Fellinis «La strada». Sie ist Tochter eines Aussteigers aus Deutschland oder Holland und einer Italienerin und hat drei jüngere Schwestern. Die Familie lebt in Umbrien auf einem abgelegenen Hof hauptsächlich von der Bienenzucht.
Auf den ersten Blick scheint es etwas unfair, Alice Rohrwachers zweiten Film mit Ursula Meiers «Home» von 2008 zu vergleichen. Schliesslich war Meiers starke Geschichte von der Familie an der unfertigen Autobahn eher metaphorisch, während Rohrwacher wie schon mit «Corpo celeste» impressionistisch naturalistisch erzählt. Aber der Kern beider Filme ist eine autarke, isolierte Kleinfamilie, im Fokus eine adoleszente Tochter.
Die Bienenkennerin
Rohrwacher hat ein Setting gewählt, das sie kennt. Zwar sei der Film keineswegs autobiografisch, sagt sie. Das würde sie schon beim Schreiben langweilen. Aber sie und ihre Schwester Alba, die im Film die Mutter spielt, haben einen deutschen Vater und eine italienische Mutter. Sie sind in und um Umbrien aufgewachsen, und auch die Bienenzucht kennt Rohrwacher aus der Nähe.
Rohrwachers Gelsomina ist keine Fellini-Figur. Das etwa 12- oder 13-jährige Mädchen wird von Maria Alexandra Lungu gespielt, einer Laiendarstellerin. Sie ist nicht nur die älteste, sondern auch Vaters Augapfel. Das macht ihr Leben nicht leichter, schliesslich betrachtet er sie als künftige Erbin der Früchte der harten Arbeit und nimmt sie entsprechend in die Pflicht. Sie ist längst die bessere Bienenkennerin als ihr Aussteigervater mit seinen Weltunterganstheorien. Aber sie sehnt sich auch nach einem konformeren Leben, was den Vater noch mehr in den Isolationismus treibt.
Strenge und Betriebsamkeit
Es ist nicht ganz klar, wie die Kleinkommune entstanden ist. Neben den Eltern und den vier Mädchen lebt noch die von Sabine Timoteo gespielte Coco auf dem Betrieb, und etwas später taucht ein Freund aus Deutschland auf, dessen Andeutungen nahelegen, dass zumindest der Vater eine etwas radikalere Vergangenheit gehabt haben könnte. Jetzt aber träumt er von einem autonomen Landwirtschaftsbetrieb und erstickt mit seiner Strenge und Betriebsamkeit beinahe das kindliche Leben seiner fünf Frauen.
Als Katalysator kommt schliesslich noch ein Junge aus Deutschland dazu: Ein Frühkrimineller, der über ein Resozialisierungsprogramm platziert wurde und der – ohne je ein Wort zu sagen – für Gelsomina der längst fällige externe Fokalpunkt wird. Und für den Vater zu einem unerwarteten Problem.
Eine kitschige Herbstshow
Mit dieser Konstellation erinnert der Film zuweilen an Rolando Collas «Giochi d’estate» von 2011. Allerdings hat Rohrwacher noch einen Nebenschauplatz eingebaut, in Form eines vom Lokalfernsehen veranstalteten Wettbewerbs um die titelgebenden «meraviglie» – die Wunder des Landes der sagenhaften Etrusker. Gemeint sind Landwirtschaftsprodukte. Die lokalen Betriebe treten in einer kitschigen Herbstshow auf der Insel im nahen See um einen Hauptpreis an. Gelsomina träumt davon, mit dem Familienhonig diesen Preis zu gewinnen, spätestens seit sie die Showpräsentatorin Milly Catena (Monica Bellucci) getroffen hat.
Das arbeitsreiche und für die Mädchen ziemlich isolierte Leben im Aussteigerbetrieb erinnert an andere Filme der letzten Jahre. Zum Beispiel «Die Vaterlosen» von Marie Kreutzer aus Österreich. Rohrwacher gelingt die schwebende Stimmung des Spätsommers wunderbar, ebenso die Spannung zwischen dem stets fordernden Vater und der liebevollen Geborgenheit bei der Mutter, die Rivalität der Schwestern und die Solidarität unter ihnen.
Ein wenig überzeichnet
Dagegen wirkt die bewusst schäbig bis lächerlich gezeichnete pseudo-magische Welt des Privatfernsehens ein wenig überzeichnet. Oder wenigstens so weit satirisch, dass die tonale Einbettung in den restlichen Film nur bedingt funktioniert.
Da ist das Bild des lebenden Kamels, das der Vater eines Tages mitbringt, um einiges unmittelbarer und bleibender. Denn das Kamel ist einer der Träume Gelsominas gewesen – als sie noch klein war und Vaters Augapfel. Jetzt aber ist das Kamel bloss noch ein Kamel und damit nicht nur ein Fremdkörper auf dem Hof, sondern auch ein unverantwortlicher Ausgabenposten im Familienbudget.
Die formale Konsequenz fehlt
Der Film lebt von solchen Ideen und Verbindungen, und er bleibt dicht und einfühlsam. Aber so schön hier beobachtet wird, wie subtil Rohrwacher auch die Nuancen im Gefühls- und Familienleben zeichnet: Dem Film fehlt die formale Konsequenz.
Es gibt gar gegen Schluss eine Szene, in der Gelsomina auf einem Surfbrett zur Insel hinüber paddelt, mit dem Rucksack für den deutschen Erziehjungen Martin, der sich dort in einer Grotte versteckt hat. Fast die gleiche Sequenz gibt es in Jane Campions gefeiertem Fernsehmehrteiler «Top of the Lake» – bloss ist es dort ein Junge, der einem versteckten Mädchen Lebensmittel bringt.