Ein panisches Zebra schwimmt unter Wasser. Ein Wal springt aus den nächtlichen Fluten den Sternen entgegen und taucht auf der anderen Seite des Bootes wieder ein. Tausende von Erdmännchen stehen, ausgerichtet wie Sonnenblumen, auf einer Insel aus fleischfressenden Pflanzen. Die Bilder stammen aus Yann Martels Bestseller-Roman «Schiffbruch mit Tiger». Und als Leser fragt man sich, wie das wohl in Wirklichkeit aussehen würde.
Reiner Kitsch, ist die Befürchtung. Denn das haben Kopfbilder so an sich: Sie sind fast immer besser als ihre Umsetzung im Kino. Es sei denn, die Filmemacher schleichen sich von hinten an und finden einen anderen Blick als den erwarteten. Ang Lee hat das nicht geschafft. Sein Film ist die linear versimpelte und oft wörtlich bebilderte Nacherzählung einer Geschichte, die ohnehin schon viel synthetischer ist, als es einem wirklich grossen Roman zustehen darf.
Überzeugender Einsatz von 3D
Zum Film-Trailer
Aber Ang Lee hat einen Film gemacht, der sich im visuellen Gedächtnis festbeisst. Und er ist der erste seit James Camerons «Avatar», der mit 3D wirklich zu zaubern versteht. Dabei hilft ihm das Meer, die Wasseroberfläche, auf welcher der grösste Teil der Geschichte spielt. Denn diese Oberfläche ist so durchlässig wie die Kinoleinwand. Ein Blick von oben lässt die Tiefe ahnen, die darunter liegt. Und ein Blick von unten erinnert an die trockene Welt darüber.
Himmel und Wasser berühren sich auf der Leinwand
Immer und immer wieder nutzt Ang Lee das Eintauchen des Blicks ins Wasser oder in die Luft als Bewegung der 3D-Kamera. Schon im ersten, eher betulichen Teil des Films, welcher die Vorgeschichte des Helden in einer Rahmenerzählung aufrollt, gelingt ihm die beste Einstellung überhaupt.
Irrfan Khan als erwachsener Piscine «Pi» Patel erzählt dem hoffnungsvollen Schriftsteller, wie er zu seinem Namen kam. Ein schwimmfreudiger Onkel in Indien schwärmte von der «Piscine Molitor», einer Pariser Badeanstalt. Und Ang Lee zeigt diesen Onkel, wie er glücklich lächelnd durch das blaue Wasser des Bades schwimmt, den blauen Pariser Himmel über sich, er zeigt ihn von oben, er zeigt ihn von unten. Und beim Blick von unten verschmelzen Himmel und Wasser, der Onkel schwimmt durchs Blau des Himmels.
Diese bildliche Verschmelzung der getrennten Räume spielt Ang Lee mit «Life of Pi» immer wieder durch – als perfekte Demonstration dessen, was 3D zu leisten vermag, wenn die Regie begriffen hat, dass es nicht darum gehen darf, die Leinwandwelt in den Kinoraum hinein zu verlängern, sondern umgekehrt: Der Raum auf der Leinwand muss in die Tiefe gehen, unser Kinoblick so weit wie möglich in die Welt jenseits der Leinwand.
Wie in einem Faltbilderbuch
Das gelingt Ang Lee immer wieder. Im Titelvorspann, der im väterlichen Zoo von Pis indischer Heimat spielt, lässt der Regisseur Tiere im Mittelgrund durchs Bild gehen; er verschiebt Vorder- und Hintergründe digital, das wirkt spielerisch faszinierend wie eines dieser Pop-Up-Bilderbücher mit den sich aufstellenden Szenen, die wir als Kinder so geliebt haben. So schickt die Regie unseren Blick stufenweise in den filmischen Raum hinein.
Gleichzeitig entwickelt sich die Geschichte so linear und simpel wie im Buch. Pi ist als Junge ein Träumer, er ist fasziniert von allen Religionen, probiert sie alle aus und nimmt von allen, was ihm passt. Sein Vater ist ein aufgeklärter Skeptiker, seine Mutter katholisch. Und Pi schliesslich ein katholischer Hindu mit muslimischem Einschlag.
Dampfkochtopf der Religionen
Der Roman ist eine ebenso ausgeklügelte wie überkonstruierte Versuchsanlage. So wie Pi zwischen dem atheistischen Skeptizismus des Vaters und dem barmherzigen Katholizismus der Mutter seinen Weg finden muss, präsentiert das Buch Pis Geschichte als augenzwinkernden Gottesbeweis mit Fragezeichen.
Pi überlebt die Reise mit dem hungrigen Tiger im kleinen Rettungsboot, die vielen phantastischen Momente und Begegnungen auf dem Meer, eine wahre Odyssee. Und er überlebt das alles immer unter Anrufung Gottes, mit einer seltsamen Mischung aus Schicksalsergebenheit und Überlebenswillen.
Gott ist im Sturm und im Tiger
Ang Lee inszeniert diese Momente mit ekstatischem Schwung. Gott ist in der Gewalt des Sturms und der Wellen. Das komplexe und nicht immer gesicherte Zusammenleben aller Wesen auf der Erde zeigt sich im Drama auf dem kleinen Boot, wo der Tiger das verletzte Zebra frisst, der Schiffbrüchige ihn mit Fischen füttert, aus Barmherzigkeit, aber auch, um selber verschont zu bleiben.
Und am Ende folgt im Buch wie im Film ein Schlenker in der Erzählung, welche den Autor gleichsam aus der Verantwortung für seine verstiegenen, um nicht zu sagen verschwurbelten Behauptungen nimmt: Pi gibt zu, dass die Geschichte seines Überlebens im Boot auch ganz anders erzählt werden könnte, als rein menschliches Drama ohne Tiere und Symbole, sinnlos, schrecklich und traumatisch.
Um mit der rhetorischen Frage abzuschliessen, welche Version der Geschichte dem Zuhörer oder Zuschauer denn besser gefalle. Damit rechtfertig der Erzähler seine Kunst mit Kunst, so wie die meisten klassischen Gottesbeweise Gott mit Gott zu beweisen suchen.
Ang Lee, Post-Hippie mit Augenmass
Dass Ang Lee sich dabei dermassen auf die Kraft der Utopie verlässt, ist dabei seinen realistischen Anfängen im Kino zum Trotz nicht wirklich erstaunlich. Lee ist das Kind einer westlich-asiatischen Kultursynthese. Er hat China im Westen gezeigt und die USA in Asien, er hat mit «Crouching Tiger, Hidden Dragon» (2000) den «Eastern» als «Western» massentauglich gemacht. Und er hat sich mit seinen jüngsten Filmen der Hippie-Kultur der Sechzigerjahre angenähert, die ihn nach eigenem Bekunden stark geprägt hat.
Lee, der mit seiner filmischen Rekonstruktion «Taking Woodstock» (2009) schon tief eingetaucht ist in den «All you need is love»-Pantheismus der Hippiebewegung, hat nun eigentlich ein Buch umgesetzt, dass mit viel mehr Kalkül als Gefühl die Retro-Hoffnungen einer gebeutelten Gesellschaft aufnimmt. Und dass er dabei ebenso schamlosen wie wirkungsvollen Kitsch produziert, ist bloss folgerichtig.
Komplexe Form braucht simplen Inhalt
Denn einerseits hat schon James Cameron mit der eindimensionalen (um nicht zu sagen einfältigen) Geschichte von «Avatar» bewiesen, dass komplexe Bildwelten und neue Überwältigungsstrategien im Kino das Publikum nicht auch noch zusätzlich mit einem raffinierten Plot fordern müssen.
Und andererseits ist Ang Lees meisterhafter Umgang mit 3D und seinen lichtdurchfluteten Super-Tableaus tatsächlich ein Beweis für die transzendierende Kraft künstlerischer Gestaltung, die aus Banalitäten grosse Momente zu destillieren vermag.