Kurz bevor das Licht ausgeht, tippen reihenweise Kinobesucher auf ihren Smartphones herum. Sie laden die kostenlose App zum Film herunter. Auf meinem Bildschirm leuchtet bereits ein grünes Auge, das Symbol der App «Iris».
Ein sprechendes Lexikon wird zur Mörder-App
«Bitte aktivieren Sie jetzt die App» steht dann auf der Leinwand. Ich drücke «Start». Und während auf meinem Handy grüne Computercodes erscheinen, beginnt vorne der Film: Dort entdeckt die Psychologiestudentin Anna nach einer Party eine mysteriöse Software auf ihrem Smartphone: Die App «Iris».
«Iris» scheint zuerst ein sprechendes Lexikon zu sein, doch dann entpuppt sie sich schnell als böse Hacker-Software.
Denn plötzlich passieren in Annas Umfeld merkwürdige Dinge, alle durch technische Manipulation hervorgerufen: Ein Video, das einen Seitensprung von Annas Freundin zeigt, verbreitet sich durch Geisterhand über die Handys im Freundeskreis. Oder: Eine Ampel schaltet frühzeitig auf Rot, so dass ein Freund von Anna bei einem Unfall ums Leben kommt. Ich bin verwirrt und auch überfordert: Was läuft da eigentlich?
SMS und Videos auf dem zweiten Bildschirm
Ich schaue auf die Leinwand, und blicke immer wieder auf mein Smartphone. Plötzlich leuchtet es auf: Ich kann SMS zwischen zwei Personen lesen, die offensichtlich etwas mit der mysteriösen App zu tun haben. Etwas später bietet der kleine Bildschirm meines Handys eine zweite Kameraperspektive zum Geschehen auf der Leinwand. Ich schaue hin und her, neugierig, aber immer noch verwirrt.
Die Handlung wird immer durchgedrehter. Da geht es nicht mehr um eine Bedrohung durch die Technik, sondern um Action, und Effekte. In einem Schwimmbad schaltet sich eine Stereoanlage ein und schmeisst sich selbst ins Wasser: Ein junges Mädchen stirbt durch einen Stromschlag.
Das Verwirrspiel um «Iris»
Etwas beschämt schaue ich auf mein Handy. Da läuft immer noch die App zum Film. Angst macht sie mir nicht, in der Geschichte bringt sie mich auch nicht weiter.
Was hat sich der Regisseur Boby Boermans nur dabei gedacht? «Ich denke, mit dem Second Screen kann man neue Erfahrungen im Kino machen. Dadurch gibt es immer wieder eine Ahnung, wer in dem Film hinter der bösen App stecken könnte.» Das stimmt, denke ich da, viel mehr bringt das aber nicht.
Ich schaue mich um. Wie es den anderen wohl geht? Aus einem Pulk von Jugendlichen, die extra für den Film zum Festival nach Genf gekommen sind, tönt die lauteste Stimme: «Ich stehe auf diese Atmosphäre. Und auf die Interaktion mit dem iPhone, das Zusatzinformationen liefert.»
Distanz, statt Nähe durch Technik?
Link zum Artikel
Die ältere Generation sieht den Film etwas kritischer: «Mich hat überrascht, dass ich gar keine Angst hatte mit den Personen im Film. Ich war zu sehr mit meinem Smartphone beschäftigt, zu sehr in der Technik», erklärt ein Besucher, der nach der Vorführung fluchtartig das Kino verlässt. Wieder andere sehen den Film zwar kritisch, haben aber trotzdem, für alle Fälle, Vorsichtsmassnahmen getroffen: «Das erste, was wir nach dem Film gemacht haben, war die App löschen.»
Das hätten sie sich sparen können: Denn die App funktioniert nach dem Film ohnehin nicht mehr. Denn die App und das, was sie zeigt – Videos und SMS – werden vom Ton des Kinofilms gesteuert, durch Signale, die das menschliche Ohr nicht hört. 36 Mal starten so auf dem Bildschirm des Smartphones, dem so genannten Second Screen, zusätzliche Infomationen.
Die Schwierigkeit, im Kino etwas Interaktives zu machen
Ein neues Kino-Gadget. Aber ist das die Zukunft des Kinos?
Wahrscheinlich nicht, sagt der Transmedia-Experte Michel Vust von Pro-Helvetia, der bei dem Festival Tous Ecrans in der Jury sitzt: «Ich weiss nicht, ob diese Benutzung die Zukunft des Kinos ist, wahrscheinlich nicht. Aber es ist eine von allen Möglichkeiten, neue Formen von Erzählung zu schaffen, mit neuen Medien. Im Kino mit dem Second Screen ist es wirklich schwierig, etwas Interaktives zu schaffen, weil es kollektiv ist. Ich glaube Interaktivität funktioniert besser auf dem Computer oder auf dem Tablet.»
Internationales Interesse
Interaktion schafft die App im Film «App» tatsächlich nicht, die Handlung bringt sie auch nicht voran, aber sie ist ein interessantes Spielzeug.
Den Reiz hat die internationale Filmindustrie bereits erkannt: 20 Länder haben sich die Filmrechte an «App» gesichert, und Hollywood hat die Rechte für ein Remake erworben. Aus der Schweiz kam bisher noch keine Anfrage.
Auch wenn mich meine erste Kino-Erfahrung mit zweitem Bildschirm nicht vom roten Sessel gehauen hat, bin ich gespannt, was andere Filmemacher – vielleicht mit einem grösseren Budget – daraus machen werden.