Eine filmische Langzeitbeobachtung – konsequent aus der Perspektive einer jungen Zentralafrikanerin erzählt.
Im Jahr 2010 beim Filmfest von Locarno. Der Film «Carte Blanche» von Heidi Specogna feiert seine Premiere. Eine Filmszene aus Zentralafrika schockiert besonders: Der damals erst fünfjährigen Arlette wird eine Schussverletzung am Knie mit einem einfachen Kräutersud ausgewaschen. Arlettes Leid, ihre Schreie bleiben dem Publikum im Gedächtnis. Es formiert sich ein Unterstützerkreis, der Arlette eine medizinische Behandlung nach europäischem Standard ermöglichen möchte. Dies ist der Initiationsmoment dieses Films «Arlette – Mut ist ein Muskel»: Arlette geht auf Reisen. In ein Land mitten im Winter, in dem niemand ihre Sprache teilt.
Aufbruch nach Berlin
Ein letzter Blick über das Dorf. Arlette steht vor ihrem Haus. Mit festem Griff hält sie ein zum Bündel geschnürtes Tuch in der Hand. Darin befinden sich ein paar Utensilien für die Reise ins Unbekannte: Maniokmehl, Erdnüsse, zwei Hosen und ein Foto der Familie.
Es ist so weit, das Taxi wartet. Arlette nimmt sich die Zeit, geht von Nachbar zu Nachbar, gibt jedem die Hand, den Babys wie den Greisen. Sie zeigt weder Aufregung noch Angst. Eine bedrückende Stille in dem sonst so lebhaften Dorf: für wie lange ist der Abschied? Wird sie gesund zurückkehren? Dann bricht die jüngste Schwester doch in Tränen aus. Arlette kehrt ihr den Rücken zu und humpelt Richtung Taxi.
Verkehrte Welt
Die plötzliche Aufmerksamkeit im Universitätsspital Charité Berlin überfordert Arlette. Bislang war sie es gewohnt, ihr wundes Knie unter dem Rockzipfel zu verstecken. Nun soll sie es allerorts vorzeigen – Röntgen, MRT, Ultraschall. Der medizinische Hightech übermannt sie.
Alle wollen ihr helfen, doch keiner weiss letztendlich wie. Wie nähert man sich einem Menschen, mit dem man nichts teilt, keine Erinnerung, keine Kultur, keine Sprache? Und wie geht Arlette damit um? Sie kämpft auf ihre Weise gegen die erdrückende Stille an. Sie dreht ihre afrikanische Popmusik auf oder plappert einfach die deutschen Worte ihrer Besucher nach, was sich immerhin anfühlt wie ein Dialog.
Geglückte OP
Die Operation gelingt: Über Nacht wird Arlette von den Schmerzen befreit. Die Befreiung wird in Arlettes ganzem Wesen spürbar. Sie fasst neues Selbstvertrauen: Tanzt zu ihrer Lieblingsmusik – trotz Katheter und Bettpflicht. Oder stiehlt sich aus dem Krankenzimmer und geht auf Erkundungstour. Als Berlin über Nacht von Schnee eingedeckt wird, findet der Wachschutz sie frühmorgens im Flügelhemd vor dem Spital. Eine Handvoll Schnee stopft sie sich gerade in den Mund und lässt ihn sich bibbernd auf der Zunge zergehen. Der erste Schnee in Arlettes Leben.
In der Rehaklinik wartet eine Überraschung auf sie: die Physiotherapie findet von nun an im Schwimmbad statt. Arlette setzt sich in den Kopf, in den verbleibenden Wochen noch schwimmen zu lernen. Ein Anruf zu Hause im Dorf: «Wenn ich zurück bin, kann ich schwimmen!» «Wo willst du das vorführen – bei uns in der Trockensavanne?» Arlette verschwendet keinen Gedanken daran und lacht in den Hörer.