Wenn drei junge Frauen und zwei junge Männer sich im Kino in eine abgelegene Hütte im Wald zurückziehen, dann ist klar, was passieren wird: Die ersten, welche Sex haben, sterben eines grausamen Todes, und am Schluss ist nur noch eine der Frauen übrig, das «Final Girl».
Nein?
Also: Die fünf reden und reden und reden, mal in der Gruppe, dann wieder in wechselnder Konstellation zu zweit. Dann haben zwei von ihnen Sex, dann zwei andere, und dann wechselt die Konstellation und dann reden wieder alle.
Alles falsch.
Aber alles da und alles nah. Der Titel von Jeshua Dreyfus' gelungenem Erstling ist Programm: «Halb so wild» spielt ganz selbstverständlich mit diesen Erwartungen. Aber ernsthaft, intensiv und ohne postmoderne Ironie.
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Wahrheitsspiel im abgelegenen Rustico
Er hält sich an die dramaturgischen Regeln, etwa jene, dass eine im ersten Akt gezeigte Pistole im dritten Akt eingesetzt werden müsse. Im Falle von «Halb so wild» ist es ein Pfeilbogen – aber er bleibt den Regeln überlegen.
Schon die Exposition, die Einführung der Figuren, ist ein verdichtetes Meisterstückchen. Jonas, der als Nachtportier jobbt, und sein Kumpel sind im Auto unterwegs nach Hause, nach Wittenberg in Deutschland. Bei einer Pinkelpause auf einer Raststätte macht Jonas die Bemerkung, dass Frauen doch eher auf Machos stehen würden als auf die netten Jungs. Worauf ihn die herausfordernde Fine, welche den Wortwechsel zufällig mitgehört hat, spontan einlädt, sie, ihre Schwester und deren Freund in den Urlaub zu begleiten:
Jonas fährt mit, und ebenfalls dabei ist Mara, von der die anderen sagen, sie sei ein wenig auf dem Psychotrip. Im abgelegenen Rustico im Onsernone-Tal ist sie es dann, welche am Lagerfeuer ein Wahrheitsspiel vorschlägt. Jeder darf jedem eine Frage stellen. Die Antwort muss absolut ehrlich sein, man redet ausschliesslich von sich selber und Repliken sind ebenso verboten wie Nachfragen.
Vielfältige und schillernde Figuren
Jeshua Dreyfus hat mit einem kleinen Team von nur 15 Leuten unter fast den gleichen Bedingungen gedreht, unter denen seine Figuren im Tessiner Bergtal Urlaub machen. Und die harte Arbeit im kleinen Team hat zu einem überraschend direkten, eindringlichen Film geführt.
Den Darstellerinnen und Darstellern gelingt es, ihre Figuren zugleich als Typen plastisch werden zu lassen, und ihnen eine überzeugende Individualität zu geben.
Die spannendste Figur ist die von Anna von Haebler gespielte Fine. Herausfordernd, provokativ, eigensinnig und destruktiv ist sie das Gegenteil ihrer sanften, auf Harmonie bedachten Schwester Babs (Jamila Saab). Und zu Babs wiederum würde Jonas (Oliver Russ) bestens passen, der hübsche Junge, der von sich sagt, er wünsche sich, dass ihn alle mögen. Aber natürlich ist Jonas von Fine fasziniert, und die wiederum hat keine Geduld für Harmonie. Die drei bilden den intensiven Kern des Films, die Figuren wie ihre Darsteller sind vielfältig, schillernd und verletzlich.
Etwas schwieriger ist die Aufgabe für Stefan Leonhardsberger und Karen Dahmen. Er spielt David, den egoistischen Freund von Babs, und sie ist Mara, die analytische Psychotante mit Hang zur Selbstverleugnung. Da ihre beiden Figuren vor allem als Katalysatoren angelegt sind, geraten ihnen einzelne Szenen manchmal etwas funktional, schwingt im einen oder anderen ihrer Sätze noch ein Echo vom Drehbuch mit.
Auch das Filmteam wurde dünnhäutig
Jeshua Dreyfus sagt, er habe die Dreharbeiten unter die gleichen Bedingungen stellen wollen wie sie sich seine Protagonisten geben: Absolute Ehrlichkeit im Team. Und das habe sich als illusorisch erwiesen. Wenn 15 unterbezahlte Leute miteinander auf engstem Raum und unter Zeitdruck filmen müssen, halte schliesslich nur noch Diplomatie das Team zusammen – für radikale Ehrlichkeit bleibe da kein Platz. Dafür habe die zunehmende Dünnhäutigkeit aller Beteiligten dazu geführt, dass die dramatische Entwicklung der Figuren spürbarer geworden sei.
Das gedrehte Material weist eine Intensität auf, welche packt. Allerdings sind Drehbuch und Konzept nur die halbe Miete. Der Dreh des Films war mehr oder weniger finanziert, dank der Preise, welche Jeshua Dreyfus mit seinen früheren Kurzfilmen gewonnen hatte. Die Postproduktion dagegen, insbesondere der Schnitt, wurde erst dank des gedrehten Materials und seiner Wirkung möglich, über diverse Nachfinanzierungen.
Überraschend ehrlich, erstaunlich reif
Und da erst zeigt sich die reife und professionelle Haltung des jungen Regisseurs, der sich erfahrenen Profis anvertraut hat. Dem Schnitt von Daniel Gibel und Gregor Brändli verdankt der fertige Film seine enorm temporeiche Erzähldynamik. Die ersten 40 Minuten geht alles Schlag auf Schlag, beim mehrfachen Schauen des Films kommt man ins Staunen über die präzise Kürze und den Sog, den ihr Rhythmus erzeugt.
Wenn man dann im Abspann die Hinweise auf Nachdrehs und gar ein Body Double sieht, ahnt man erst, wie viel Arbeit und Sorgfalt noch lange nach den Dreharbeiten nötig gewesen sein muss. Und das wiederum ist ein Hinweis auf die Entschlossenheit und die Weitsicht des Filmemachers.
Der Aufwand hat sich gelohnt. «Halb so wild» ist ein überraschend ehrlicher und erstaunlich reifer Film, mit fünf jungen Darstellerinnen und Darstellern, die in ihren Rollen manchmal fast dokumentarisch wirken. Und zugleich zeigt Regisseur Dreyfus eine dramatische Disziplin, die beeindruckt: Kein Pathos, keine Wehleidigkeit, kein Weltschmerz. Einfach eine Geschichte mit jungen Menschen, die das Leben proben.