Dass er im Reich der Mitte zum Volkshelden avancieren würde, hätte Jean-Jacques Annaud selbst nicht für möglich gehalten. Schliesslich ist es gar noch nicht so lange her, als ihn China wegen der Dalai-Lama-Ode «Seven Years in Tibet» zum Staatsfeind erklärte. 1997 wurde ganz offiziell ein lebenslanges Einreiseverbot gegen den französischen Regisseur verhängt. Die chinesische Bevölkerung bewunderte Annaud trotzdem – vor allem wegen seiner sehr freien und freizügigen Adaption des Marguerite-Duras-Romans «L‘amant». Die war in China zwar verboten, doch das steigerte den Kult um die Sexszenen mit Hongkong-Kinostar Tony Leung bloss.
Unwiderstehliche Reize führen zur Zweckehe
So kam es, dass anno 2007 eine chinesische Delegation in Paris auftauchte, um Annaud als Regisseur für «Wolf Totem 3D» zu gewinnen. Von seiner Reaktion erzählt der 72-Jährige immer wieder gerne: «Wissen Sie nicht, dass ich in Ihrer Heimat eine Persona non grata bin?» soll er gefragt haben. China habe sich verändert, wurde ihm daraufhin versichert. Heute laufe alles pragmatisch. Da der chinesischen Filmindustrie die Erfahrung mit Tierfilmen dieser Grössenordnung fehle, sei er herzlich willkommen.
Die Rolle des gebildeten Entwicklungshelfers in der Fremde scheint dem Franzosen besonders zu behagen. Bereits 1967 ging er als solcher nach Kamerun. Seine Erfahrungen flossen später in die Oscar-prämierte Kolonialismus-Farce «Black and White in Color» ein. Nun lockte die Gelegenheit, China und die Mongolei kennenzulernen. In Fernost wurde er zunächst von cinephilen Akademikern hofiert, bevor er sich schliesslich von Bestseller-Autor Lü Jiamin zur Teilnahme am 40-Millionen-Dollar-Projekt überreden liess.
Wenn der Preis stimmt, stellt sich der abenteuerlustige Franzose gerne in den Dienst anderer Nationen. Die Liste seiner Auftragsgeber geht dabei weit über das übliche europäisch-nordamerikanische Koproduktionsnetz hinaus. Vor seinem Engagement in China hat Annaud schon für Geldgeber aus der Elfenbeinküste, Tunesien, Vietnam und Katar gearbeitet. Zum neuen Kinoriesen China, sagt der Weltenbummler augenzwinkernd: «Wir hatten einen schwierigen Start, aber inzwischen spüre ich, dass uns eine Seelenverwandtschaft verbindet. Schliesslich haben wir beide am 1. Oktober Geburtstag!»
Raubtiere, Pathos, Kitsch
Klar, wenn Tiere in opulenten Bilderbögen als Hauptdarsteller herhalten sollen, gibt es kaum einen besseren Inszenator als Jean-Jacques Annaud. Mit «L‘ours» portraitierte er 1988 praktisch dialogfrei das Familien- und Triebleben wilder Bären. Ein Klassiker, der bis heute nichts von seiner rohen Kraft eingebüsst hat. 2004 wollte Annaud das Kunststück mit anderen Raubtieren wiederholen. Sein Drama «Two Brothers» scheiterte jedoch beim ambitionierten Versuch, aus den Charakterunterschieden von Tigerbrüdern Spannung zu generieren.
Seiner Arbeitsweise ist Annaud trotz einiger Rückschläge treu geblieben: Am liebsten fängt er die Emotionen der Tiere in Grossaufnahmen ein. Hollywood macht das mit seinen menschlichen Stars nicht anders. Annaud will mit seiner Methode die Gleichwertigkeit aller Kreaturen unterstreichen. Seine Kritiker finden dagegen, der Regisseur vermenschliche damit die tierischen Helden und psychologisiere ihr Verhalten. Was Annaud kreiere, sei darum kein grosses Kino, sondern reiner Gefühlskitsch.
Noble Zurückhaltung des Grandseigneurs
Jean-Jacques Annaud lässt die gebetsmühlenartig vorgetragene Fundamentalkritik kalt. Der Erfolg gibt ihm Recht. Nur ganz wenige Hollywood-Produktionen wie «Fast and Furious 7» spielten in diesem Jahr in China mehr Geld ein als «Wolf Totem 3D». Das Publikum liebt das Überwältigungskino des Franzosen. Und das chinesische Filmbüro hat sein mitreissendes Tierdrama gar ins Oscar-Rennen geschickt.
Zum totalen Triumph wird es allerdings nicht kommen. Die Academy hat den Wettbewerbsbeitrag disqualifiziert, weil zu viele Schlüsselpositionen mit Nicht-Chinesen besetzt seien. Peking reagierte verärgert: Die Ablehnung spiegle bloss Hollywoods Angst vor dem neuen Konkurrenten China wider. Und was sagt Annaud dazu? Der Weltenbürger schweigt, zeigt sich unberührt. Sich aufzuregen, wäre unter seiner Würde. Schliesslich hat er schon genügend Preise im Trophäenschrank.
Kinostart: 29. Oktober 2015