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Film & Serien Kino ohne Schnitt und doppelten Boden

«Victoria» ist ein kühnes Experiment. Regisseur Sebastian Schipper drehte den über zweistündigen Spielfilm in Echtzeit: ohne Schnitt, mit improvisierten Dialogen. Das Ergebnis ist eine Achterbahnfahrt durch die Berliner Nacht, die leider nicht durchgängig von der wilden Produktionsweise profitiert.

Eine junge Spanierin Victoria trifft in einem Berliner Untergrundclub vier Jungs in ihrem Alter. Gemeinsam trinken sie Bier, steigen auf ein Hochhausdach, blödeln in den Strassen herum und überfallen dann im Morgengrauen eine Bank.

140 mehrheitlich atemlose Grossstadtminuten in einem einzigen Take: Das ist eine filmische Eigernordwand. Sebastian Schipper – bekannt als Macher stimmiger Komödien wie «Absolute Giganten» – hat sie mit seinem Team bezwungen.

Laia Costa in einer Nahaufnahme aus dem Film «Victoria».
Legende: Die 30-jährige Spanierin Laia Costa trägt als Hauptdarstellerin den Film. Filmcoopi

Bewundernswert verrrückt

Ohne die Kamera ein einziges Mal abzusetzen, folgt Schipper seinen Protagonisten in Echtzeit durch die Nacht. Meist ist der Blick auf Schulterhöhe einer der Figuren. Das wirkt nie gezwungen, die Perspektiven sind in etwa jene, die man in einem konventionellen Spielfilm erwarten würde. Und genau das ist auch die Krux dieses bewundernswert verrückten Versuches: Der Film gewinnt nichts.

Oder zumindest: Der Zuschauer gewinnt nichts dabei. Vielleicht ist die Intensität der Szenen höher, vielleicht haben die offenbar drei Durchgänge, welche das ganze Team mit den Schauspielern unternommen hat bis es klappte, den fiebrigen Realismus erhöht. Aber die meisten Kinozuschauer sähen sich ausserstande, in einer konventionellen Filmszene die Schnitte zu benennen. Wir sind es dermassen gewohnt, fragmentierte Szenenfolgen zu einem narrativen Ganzen zu formen im Kopf, dass ein Schnitt allenfalls auffällt, wenn er einen abrupten unmotivierten Ortswechel vornimmt.

Aufwand und Ertrag im Ungleichgewicht

Oder anders gesagt: Dort, wo «Victoria» als filmische Erzählung packt, dort wo der Film mitreisst, ist die Illusion, dabei zu sein stärker als jeder analytische Blick. Das gelingt dem Film zum Glück sehr oft, aber leider nicht immer. Denn dann gibt es auch noch Szenen, in denen der Blick und die Gedanken abschweifen, weil das Geschehen mehr Stimmung sucht als das treibende Vorwärts. In diesen Momenten wird einem der forcierte, gewissermassen blinzelfreie Dauerblick sogar lästig.

Eine junge Frau mit zwei der vier Männer, mit denen sie später eine Bank überfallen wird.
Legende: Die Bilder von «Victoria» sind nicht immer scharf, doch sehenswert. Filmcoopi

So lässt sich sagen, dass allenfalls die chronologische Dramaturgie bei der Drehbuchentwicklung von dem Konzept profitiert hat. Vielleicht auch die Schauspieler, die wie bei einer Theatervorstellung über zwei Stunden pausenlos in ihren Figuren und deren Geschichte drin bleiben. Und das wäre ja schon viel.

Wenn man sich aber den logistischen Aufwand vorstellt, der nötig war, um alle die Berliner Drehorte für die genau getimten 140 Minuten freizuhalten und gleichzeitig mit Dutzenden von Nebendarstellern zu bestücken, dann rechtfertigt das Resultat den Aufwand nicht – bei aller Bewunderung für die grandiose Sportlichkeit.

Zwischen Godard und Miami Vice

Als filmisches Erlebnis ist «Victoria» durchaus Godards «Á bout de souffle» verpflichtet. Schipper schafft es auch, das Gefühl der Unsterblichkeit einer solchen jugendlich inspirierten Nacht zu vermitteln, die schiere, unverwundbare Lebenslust der jungen Frau und der vier jungen Männer. Und den Absturz im Morgengrauen. Der Film ist randvoll mit starken Momenten, die Darsteller reissen einen mit.

Mit ein paar Ausnahmen: Wenn die Jungen von einem comicartigen Gangsterboss und seinen bewaffneten Kerlen in einer Tiefgarage auf den Bankraub eingefuchst werden, atmet das mehr den Geist von «Miami Vice» als von Berlin. Genauso wie die exzessive Schiesserei mit der Polizei im Vorhof einer Wohnsiedlung.

Der Bankraub wirkt dagegen stimmig und wie ein solcher fühlt sich der Film für Regisseur Sebastian Schipper auch an. Angefangen bei «der hirnrissigen Idee so etwas überhaupt zu machen», über die «Angst mittendrin, dass es nicht funktioniert», bis zum erhofften Ausgang. Wie Schipper im Interview erklärt, habe das Projekt bei allen Beteiligten ein gutes Gefühl hinterlassen: «Als ob wir mit ganz viel Geld, Glück und Euphorie da rausgekommen sind».

Zu gut gelungen?

«Victoria» ist ein bewundernswert konsequent durchgezogenes Experiment und ein Beispiel für die von immer mehr Filmemachern gesuchte künstliche Reduktion der digitalen Produktionsfreiheit. Was Lars von Trier und seine «Dogma»-Kollegen 1995 mit einem rigiden, reduktiven Regelwerk zu bewerkstelligen suchten, auferlegen sich innovative Filmemacher nun mit anderen bewussten Verzichten auf die Bequemlichkeit der eingespielten Film-Konventionen.

Im Falle von «Victoria» könnte man allerdings sagen: Das Experiment ist zu gut gelungen. Sebastian Schipper und seine Mitstreiter haben die selbstgewählten Zusatzschwierigkeiten so bravourös gemeistert, dass das Resultat im Kino schon wieder weitgehend den gewohnten Konventionen entspricht.

«Victoria» startet am 18. Juni in den Deutschschweizer Kinos.

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