Die beiden 14-jährigen Klosterschülerinnen Anne (Jeanne Goupil) und Lore (Catherine Wagener) interessieren sich nicht sonderlich für das, was Mädchen ihres Alters normalerweise so umtreibt. Statt sich mit Jungs abzugeben, lesen sie nachts heimlich unter der Bettdecke Lautréamonts «Die Gesänge des Maldoror» und huldigen, ganz dem Reiz des Verbotenen erlegen, hingebungsvoll ihrer einzig wahren Liebe, dem Teufel.
Die Bourgeoisie entlarven
Angefacht von ihrer Leidenschaft für das Böse, beginnen die Mädchen, den Männern aus ihrem Dorf gemeine Streiche zu spielen. Sie töten die geliebten Vögel des dementen Gärtners oder zünden die Strohballen auf den Feldern der Bauern an. Um ihre Verbundenheit mit dem Bösen zu untermauern, halten sie sogar eine rituelle Messe ab. Was als Spiel aus Verführung und Demütigung beginnt, gerät zusehends ausser Kontrolle.
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Der heute zum Kult avancierte Film, ist irgendwo zwischen Drama, kohlrabenschwarzer Komödie und Horrorfilm angesiedelt und mit einem Quäntchen pädophiler Erotik angereichert. Sicherlich wollte Joël Séria mit seinem Erstling die provinzielle französische Bourgeoisie schockieren, die seine minderjährigen Heldinnen, Anne de Boissy und Lore Fournier, mit ihrer anfangs noch unschuldigen und letztlich tragisch endenden Rebellion, als restriktiv und autoritär entlarven.
Noch heute auf dem Index
In erster Linie wird die obere französische Mittelschicht, deren tägliche Rituale, erstarrte Traditionen, aufgesetzte Ehrenhaftigkeit und bigotte Religiosität aufs Korn genommen. Überraschend, zumindest für einen Film aus dem laizistischen Frankreich, entgeht auch der Klerus der Verhöhnung nicht. In einer der komischsten Szenen des Films verdammt der Priester in der sonntäglichen Messe, polternd und geifernd, die voreheliche Unkeuschheit. Anne fantasiert ihn als nacktes, geiles Männchen und erlebt ihn kurz darauf, als sie ihm beichtet, zwei Klosterschwestern in lesbischer Zuneigung beobachtet zu haben, als lüsternen Zuhörer.
In Italien steht der Film wegen seiner antireligiösen Haltung noch heute auf dem Index. Das ist gar nicht so überraschend, da der Film, 42 Jahre nach seinem Kinostart, auch heute gängige Moralvorstellungen in Frage stellt.
Freundschaft mit lesbischen Zügen
Satanskulte mit Hostienschändung waren und sind noch immer provokant. Doch heute würden wohl eher die Gewaltszenen und die pädophil anmutenden Sex- und Vergewaltigungsszenen für Aufregung sorgen. Sieht man, wie die 14-jährigen Mädchen einen zurückgebliebenen Bauern verführen, fällt es einem tatsächlich schwer zu glauben, dass die Schauspielerinnen bei den Dreharbeiten volljährig waren.
Anne und Lore besiegeln mit ihrem Blut eine durch nichts zu lösende Freundschaft mit lesbischen Zügen. Sie endet tragisch, als die Mädchen erkennen, dass sie ihre Verbrechen nicht länger verhüllen können.
Inspiration durch einen realen Fall
Wer den Film «Heavenly Creatures» von Peter Jackson gesehen hat, dem entgeht nicht, dass sich auch Séria an dem Mordfall Pauline Parker und Juliet Hule inspiriert hat. Die weltabgewandte Freundschaft der neuseeländischen Teenager kulminierte im brutalen Mord an Paulines Mutter und schockierte 1954 die Weltöffentlichkeit. Doch während sich Jackson – abgesehen von einigen surrealen Tableaus – am echten Kriminalfall orientiert, dient dieser Séria nur als Auslöser um den Aufstand «braver Kinder» zu inszenieren.
Bei Séria beflügelt Literatur die morbide Phantasie der Mädchen. Eng umschlungen lesen die Freundinnen im Licht der Taschenlampe unter der Bettdecke Lautréamonts erotische und dekadente Ausschweifungen suggerierende Prosa. In der letzten Szene des Films skandieren die Mädchen Baudelaires «Tod der Liebenden», der morbide Höhepunkt des Films.
«Satanisch» nur an der Oberfläche
Doch «Mais ne nous délivrez pas du mal» will, ganz anders als die meisten Filme jener Zeit, nicht einfach schockieren, sondern den Zuschauer zum Nachdenken animieren. Anne de Boissy und Lore Fournier könnten die Töchter jeder «bürgerlichen» Familie in den 70ern und eben auch heute sein.
Annes und Lores Rebellion ist nur an der Oberfläche ideologisch. «Satanisch» ist an ihr, ausser dem Namen, rein gar nichts. Die von einer rechtschaffenen und selbstgefälligen Gesellschaft aufgestellten Regeln zu brechen, ist in erster Linie die Reaktion auf die Langeweile und existenzielle Verunsicherung, der sich die beiden Mädchen, Tag für Tag, in der Familie, im Internat, im Gottesdienst, ausgesetzt fühlen.
Von der Filmförderung geschmäht
«Mais ne nous délivrez pas du mal» lebt von der expressiven Kraft der beiden Hauptdarstellerinnen und ist wundervoll fotografiert. Ein Glücksfall, denn Joël Séria hatte, mit Ausnahme des erfahrenen Kameramanns Marcel Combes, nur Laien und Anfänger um sich geschart. Da die Filmförderung das Drehbuch als nicht förderfähig ansah, musste sich Séria das Budget aus privaten Quellen zusammenbetteln.
Berühmt – und von der Filmförderung dann auch gefördert – wurde Séria vier Jahre später mit «Les galettes de Pont-Aven», einem Film, der in Frankreich als Meisterwerk gilt.