Als Philosophie-Lehrerin müsste Nathalie (Isabelle Huppert) gerüstet sein für die Wendungen im Leben. Als ihr Mann Heinz sie nach 25 Jahren Ehe für eine andere verlässt, ist sie das auch. Auf den ersten Blick.
Etwas kühle Wut, gefasste Haltung – niemand kann das besser darstellen als Isabelle Huppert. Umso unerwarteter daher der Moment, in dem Nathalie dann doch die Tränen kommen: Ausgerechnet, als sie ihrem einstigen Lieblingsschüler Fabien (Roman Kolinka) von der Scheidung erzählt.
In diesem Moment realisiert Nathalie, dass sie sich auch von dem Haus an der bretonischen Küste verabschieden muss. Das Haus, in dem sie die Ferien mit ihren Kindern verbracht hatte, dessen Garten sie 25 Jahre lang gepflegt hatte. Das Haus, das der Familie ihres Mannes gehörte.
Intellektuelle Tischgespräche
Nathalie ist Philosophin und Lehrerin mit Leidenschaft. Ihr erklärtes Ziel ist längst nicht mehr die Verbesserung der Welt, wie sie Fabien angesichts seiner jugendlichen Radikalität und seinem Hang zum Anarchismus erklärt, sondern schlicht und einfach, jungen Menschen das selbständige Denken beizubringen.
Beziehungen, Verwandtschaften, Liebesdramen gehören zu den Filmen von Mia Hansen-Løve ebenso sehr, wie der ganze fröhliche Ballast des intellektuellen französischen Kinos.
Nathalie und ihr Mann haben beide Philosophie studiert, entsprechend fallen ihre Tischgespräche aus, ihre Alltagsbemerkungen. Und die Kommentare ihrer erwachsenen Kinder, wenn sie zum Essen zu Besuch sind.
Leise Komik
Das Schönste an diesem Film – neben seiner intellektuellen Redlichkeit beim Abbrennen philosophischer Wunderkerzen – ist die leise Komik, die sich immer wieder ergibt. «L’avenir» ist oft so lustig wie einer der frühen Woody-Allen-Filme, ohne auf Pointen zielen zu müssen.
Die witzigen Kontraste ergeben sich aus den Lebensumständen. Wenn Nathalie sich energisch durch einen Kordon von streikenden Gymnasiastinnen und Gymnasiasten drängt, um pünktlich ihren Unterricht anfangen zu können.
Wenn sie noch einmal hinausgeht, um zwei Schülerinnen herein zu lotsen, die von ihren protestierenden Mitschülern aufgehalten wurden, bloss, um die ganze Klasse dann mit einem Rousseau-Zitat zu provozieren: «Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, so würde es demokratisch regiert werden. Eine so vollkommene Regierung passt nicht für Menschen.»
Aber gleich darauf mahnt sie die Jugendlichen, aus dem Zitat keine falschen Schlüsse zu ziehen. Rousseau sei mit seinem Gesellschaftsvertrag einer der Vordenker der französischen Revolution gewesen.
Noch nie so frei
Der Film bringt solche Momente mit einer Leichtigkeit auf die Leinwand, die Freude macht. Nathalie kämpft mit den Depressionen und den leichtfertig inszenierten Suizid-Versuchen ihrer Mutter (Edith Scob, grossartig wie immer) und später mit der Pandora genannten schwarzen Katze der Mutter.
Alle Entwicklungen steuern auf jenen Moment zu, in dem Nathalie realisiert, dass sie noch nie so frei war in ihrem Leben wie jetzt. Und dass sie vor dieser Freiheit noch nie so viel Angst hatte.
Vor Freude klatschen
«L’avenir» ist der bisher eleganteste, leichteste, rundeste Film von Mia Hansen-Løve. Eine fliessende Mischung aus intellektuellen Bausteinen, grossherzig erspürten Gefühlen und menschlichen Unzulänglichkeiten.
Zum ersten Mal ist es der Regisseurin gelungen, die in ihren Drehbüchern stets mitschwingende Thesenhaftigkeit zu einem vibrierenden, lebendigen Element des Films zu machen.
Dabei hilft Isabelle Huppert als Schauspielerin durchaus mit. Aber dass der Film in jedem Augenblick lebt und berührt und einem auch im Rückblick ein Lächeln ins Gesicht zwingt: Das ist einfach schön.
Kinostart: 4.8.2016