Eigentlich trifft sie ja gar keine Schuld: Die junge Ärztin Jenny (Adèle Haenel) reagiert am Feierabend beim Zusammenräumen nicht mehr auf das Klingeln an der Tür ihrer Praxis in einem Arbeiterviertel der belgischen Stadt Lüttich. Ausserhalb der Arbeitszeiten will sie keine Patienten mehr sehen. Und wäre das hier ein ernsthafter Notfall, dann würde wohl mehrmals geklingelt.
Nur: Es ist tatsächlich ein Notfall. Die unbekannte Frau, die sich bei Jenny Einlass verschaffen wollte, wird kurz darauf tot aufgefunden: als Opfer eines Gewaltverbrechens.
Jenny hätte die junge Verfolgte per Knopfdruck retten können. Aus Gewissensbissen beginnt die Ärztin daher trotz Abraten der Polizei, auf eigene Faust zu ermitteln. Zumindest den Namen der unidentifizierten Leiche will sie in Erfahrung bringen; aber nur schon damit handelt sie sich Ärger ein.
Auflösung Nebensache
Die Story des neuen Sozialthrillers der beiden Regisseure Luc und Jean-Pierre Dardenne («Le garçon au vélo») gleicht stärker denn je einem klassischen Krimi-Schema.
Auch wenn Jenny vorgeblich nur nach einem Namen für den Grabstein der Verstorbenen sucht, zeichnet sich ab, dass ihre Nachforschungen sie unweigerlich in die Nähe der Person bringen werden, die das Verbrechen auf dem Kerbholz hat.
Artikel zum Thema
Man merkt aber schon bald, dass die Entlarvung der schuldigen Person für die Gebrüder Dardenne beim Schreiben eher eine Nebensache gewesen sein muss.
Die Auflösung des Falls am Ende des Films überzeugt nicht wirklich, und auch der strukturelle Weg dorthin führt um zu viele Ecken, die man bereits aus weit weniger ambitionierten Fernsehkrimis kennt.
Diagnosen statt Verhöre
Sehr sorgfältig entworfen hingegen ist die Hauptfigur Jenny. Obwohl wir über ihr Privatleben kaum etwas erfahren – ganz bewusst nicht, wie die Dardenne-Brüder im Gespräch einräumen – ist sie eine faszinierende Figur.
Sie ist nüchtern und pflichtbewusst gegenüber ihren Patienten; autoritär im Umgang mit dem Praktikanten an ihrer Seite; im Innersten verletzt durch ihre Mitschuld an einem Todesfall; hartnäckig und unerschrocken in ihren Ermittlungen.
«Für uns war vor allem wichtig, dass Jenny über ihre ganze Suche hindurch nicht wie eine Detektivin oder Polizistin funktioniert, sondern immer wie eine Ärztin», führen die Dardennes hierzu aus.
«Sie horcht in die Menschen hinein und registriert Auffälligkeiten. Sie kombiniert nicht, sondern sie hört ihren Ansprechpartnern so lange zu, bis sie erfährt, was sie wissen muss. Man könnte sagen: Sie stellt Diagnosen.»
Fehlende Nächstenliebe
Dieser Ansatz ist derweil ein unschwer erkennbares Abbild der Arbeitsweise der beiden Autoren und Regisseure selbst: Auch sie diagnostizieren in diesem Film einmal mehr, woran die heutige Gesellschaft so krankt: nämlich zu wenig Nächstenliebe.
Und wie immer sind die verschriebenen Rezepte der Dardennes zutiefst moralischer Natur: Nur das Eingeständnis von Mitschuld – im Falle Jennys gar der Auslöser ihres Handelns – kann zur Erlösung führen.
Das sind die Regeln im Universum der Dardennes, und sie haben sich im Verlauf der Jahre nur wenig verändert. Die Suche nach Gerechtigkeit, nach Vergebung oder nach Liebe bleibt ein Hindernislauf in ihre oft grauen, kalten und abweisenden Welt.
Aber immerhin haben die Dardenne-Brüder mit der gewohnt eindringlich agierenden Schauspielerin Adèle Haenel eine ihrer bisher überzeugendsten Hindernisläuferinnen gefunden.
Kinostart: 3.11.2016
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 2.11.2016, 08:20 Uh r