Liebevoll, natürlich und anders. Der erste Animationsfilm in voller Spiellänge von Trickfilmregisseur Michael Dudok de Wit berührt. Kein Wunder, wurde sein Werk am diesjährigen Filmfestival in Cannes in der Sektion «Un Certain Regard» mit dem Spezialpreis ausgezeichnet.
Ein Film jenseits der Kategorien
«La Tortue rouge» ist kein Film, bei dem man nach dem Kinobesuch lauthals über den Inhalt diskutieren möchte. Vielmehr verspürt man das Verlangen nach Meditation und Ruhe. «La Tortue rouge» stimmt nachdenklich und hat das gewisse Etwas. Der Film lässt sich schlecht kategorisieren und gar nicht erst mit anderen Produktionen vergleichen.
Die Geschichte von de Wit handelt von der Sehnsucht nach Zweisamkeit, der Zeitlosigkeit der Natur und dem Kreislauf des Lebens. Teilweise erinnert die Erzählung an ein Hans Christian Andersen-Märchen, nur gräbt «La Tortue rouge» tiefer und zeigt auch düsteres und realistisches auf. Der Tod wird nicht beschönigt.
Abenteuer mit Tiefgang
Der Held ist ein einsamer Schiffbrüchiger, der auf einer Tropeninsel strandet. Verzweifelt versucht der Mann mit schwarzen Knopfaugen von der Insel wegzukommen und den Gefahren, die die Insel umgeben, zu entkommen.
Doch jedes Mal, wenn er auf seinem selbst-gezimmerten Floss in Richtung Zivilisation treibt, wird es zerstört: Eine mysteriöse rote Schildkröte verhindert die Abreise. Doch eines Nachts verwandelt sich das Tier in ein anderes, wundervolles Wesen.
Nostalgische Effekte dank traditionellem Handwerk
Es ist das erste Mal, dass das weltberühmte japanische Zeichentrickfilmstudio Ghibli einen Film ausserhalb von Japan mitproduziert. Durch die Mischung von östlichem und westlichem Stil erhält das belgisch-französisch-japanische Werk einen ganz besonderen Touch.
Regisseur de Wit entschied sich bewusst für einen Animationsfilm, der sowohl von Hand als auch auf dem Computer gezeichnet werden sollte. Der Hintergrund hat de Wit auf Papier mit Holzkohle gemalt, digital animiert wurden lediglich das Floss und die Schildkröte. In den meisten aktuellen Animationsfilmen wird kaum noch von Hand gezeichnet. Darum besitzt «La Tortue rouge» einen nostalgischen Touch.
Harmonie als Königsdisziplin
Im Film existiert weder Zukunft noch Vergangenheit. Namen und Identitäten sind irrelevant. Das kostbare Nebenelement: Die Musik. Sorgfältig unterstreicht sie an ausgewählten Stellen die Stimmung.
Dialog gibt es keinen, im Fokus stehen die Geräusche der Natur: Vogelgezwitscher, Regentropfen, heulender Wind, stürmische See. Ab und zu hört man die Charaktere atmen, lachen oder schreien.
Mit meditativer Stimmung
Regisseur de Wit, der selbst Piano spielt und ein gutes Ohr für die Musik besitzt, holte sich für die Musikkomposition Laurent Perez del Mar ins Boot. Von der Demo des französischen Filmkomponisten liess sich Michael Dudok de Wit sofort inspirieren.
Da der Film keinen Dialog enthält, ist die Musik Schlüssel zur Interpretation und zum Verständnis der einzelnen Szenen. Sie folgt durch die komplette Geschichte hindurch einem gewissen Rhythmus: Das löst beim Publikum eine leicht meditative Stimmung aus.
Liebevolle Gestaltung
Aus 100'000 Zeichnungen und 10 Jahre Arbeit ist ein kleines Meisterwerk entstanden. Auch wenn sich die 80 Minuten teilweise etwas in die Länge ziehen, überzeugt die simple und magische Story. Die liebevolle Gestaltung des Filmes ist in jeder einzelnen Sekunde zu spüren. «La Tortue rouge» fällt in Mitten all der computeranimierten Filme auf. Ein wahrer Hingucker.