Adèle (Adèle Exarchopoulos) ist Gymnasiastin. Ein Mädchen, introvertiert und sensibel, das verliebt sein möchte, in einen Jungen. Wie ihre Klassenkameradinnen. Doch die Beziehung zu Thomas (Jeremie Laheurte) macht Adèle nicht glücklich. Eines Tages läuft sie einer jungen Frau über den Weg, die sie in ihren Bann zieht. Ihre Haare sind so blau wie ihre Augen, ihr Blick ist neckisch, und Adèle ist verzaubert. Sie sucht die Fremde und findet schliesslich ihre Fee – Emma (Léa Seydoux).
Sendung zum Thema
Sie verknallen sich ineinander, einem zaghaften Kuss folgt ein zweiter, und die grosse Leidenschaft ist da. Ihr Liebesspiel, das Regisseur Abdellatif Kechiche in wahnwitzig langen und unzensierten Szenen zeigt, ist dringlich wie die Liebe und das Verlangen bis in die Seele des Geliebten vorzudringen, dringlich wie der Orgasmus, der die Zeit für eine kleine Ewigkeit anhält.
As time goes by
Die Jahre vergehen, Adèle und Emma leben zusammen. Der Alltag holt die Liebenden allmählich ein. Eifersüchteleien, ein One-Night-Stand und das gegenseitige Misstrauen führen schliesslich zur Trennung. Als Sehnsucht schon längst vergangenem Glück Platz gemacht hat und Tränen dem Lachen, begegnen sich Adèle und Emma wieder. Zaghaft deutet sich die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft an. Sicher ist einzig: Das Leben geht weiter.
Es ist ein Lebensfragment, das drei Stunden lang von der Leinwand brennt und tief berührt. In Bildern eingefangene Poesie. Eine intime Geschichte, schwungvoll sorglos. So ist Kino, wenn es seine Magie entfaltet. Mit «La vie d’Adèle» gelingt Kechiche die Verzauberung.
Ein Manifest für die Liebe
Mit unglaublichem Zartgefühl geben Lèa Seydoux und Adèle Exarchopoulos unter Kechiches Anleitung weitgefächerte Emotionen wieder. In den stärksten Szenen verzichtet der Regisseur gänzlich auf Verstärkung durch dramaturgische Musik. Die Darstellerinnen fürchten sich nicht, ihr mal vor Liebesverlangen glühendes, mal vom Hass verzerrtes Gesicht zu zeigen und Rotz und Wasser zu heulen. Diese Natürlichkeit im Spiel der beiden Schauspielerinnen war es, die dem Film in Cannes nicht nur die Goldene Palme für den besten Film einbrachte, sondern auch den Preis für die zwei besten Hauptdarstellerinnen.
Kechiche wickelt die Geschichte ab und verzichtet auf jegliche Wertung. Wer ein Manifest lesbischer Liebe erwartet, wird enttäuscht. Als Zuschauer schlüpft man für ein paar Stunden in die Haut von Adèle, spürt die Lebenskraft, die Zärtlichkeit und die Ängste des Verliebten. Wenn der Abspann beginnt, hat man Lust auf mehr, möchte im Geiste den Film verlängern, eine Zukunft erfinden und dem offenen Ende eine Richtung geben.
Fazit
Die eine oder andere Kürzung, die dem erzählerischen Überschwang des Regisseurs Einhalt geboten hätte, und «La vie d’Adèle» wäre ein Meisterwerk geworden, das einem den Atem raubt. So ist es nur ein grossartiger Film, der dennoch den Atem raubt.