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«Die Schmerzen sind im Film aufgegangen», sagt Regisseurin Claudia Sainte-Luce.
Legende: «Die Schmerzen sind im Film aufgegangen», sagt Regisseurin Claudia Sainte-Luce. Festival del film Locarno / Marco Abram

Film & Serien «Los insólitos peces gato»: Filmen als Exekution der Gefühle

Erst 30 Jahre alt ist die mexikanische Filmemacherin Claudia Sainte-Luce – und verbucht mit ihrem ersten Langspielfilm gleich einen weltweiten Erfolg. «Los insólitos peces gato» – «The Amazing Catfish» – ist ein Film über das Überwinden der Einsamkeit. Ein Gespräch mit der Regisseurin.

Der Spielfilmerstling der jungen mexikanischen Regisseurin Claudia Sainte-Luce hatte seine Premiere letztes Jahr am Festival von Locarno. Und überzeugte dort die Zuschauer und die Jugendjury. «Los insólitos pesces gato» bekam aber nicht nur in Locarno einen Preis, er überraschte an Festivals rund um die Welt. Der feine Film über grundlegende menschliche Gefühle wie Einsamkeit und Lebensfreude erzählt die Geschichte der 22-jährigen Claudia. Sie ist Angestellte eines Supermarktes und einsam. Eines Tages trifft sie im Krankenhaus auf Martha, die Mutter einer lebhaften Familie. Marta spürt Claudias Einsamkeit und nimmt sie nach der Operation kurzerhand mit zu sich nach Hause.

Claudia Sainte-Luce, in Ihrem Film fällt als erstes der Ton auf: Sie arbeiten sehr intensiv mit Geräuschen, man hört Wassertropfen, man hört Klopfen oder den Verkehr. Warum haben Sie die Tonspur so stark betont, warum ist sie so wichtig?

Meine Hauptfigur Claudia ist komplett in ihrem eigenen, einsamen Universum eingeschlossen. Also hört sie alle Geräusche um sie herum besonders stark. Aber je mehr sie im Verlauf des Films Teil einer neuen Familie wird, je mehr sie sich öffnet, kommt sowohl mehr Licht in ihr Leben, als auch neue Töne. Das sieht und hört man im Film.

Der Film dreht sich um Einsamkeit: eine Frau, die alleine lebt, die aber dann eine Frau und deren ganze Familie kennenlernt und nach und nach Teil dieser Familie wird – ihre Einsamkeit ablegt. Kennen Sie diese Einsamkeit? Ist das eine Geschichte aus Ihrem Leben?

Ja, es hat in der Geschichte ganz viel aus meinem eigenen Leben. Ich habe selber im Jahr 2005 diese Frau Martha kennen gelernt. Sie war 46 Jahre alt, war aidskrank und ich habe Sie noch ein Jahr gekannt, bevor sie gegangen ist. Sie hat mein Leben stark verändert. Sie hat mich in ihre Familie adoptiert. Der Film erzählt, was damals mit mir passiert ist: Ich konnte nichts mit niemandem teilen. Aber nachdem diese Frau mir ihre Aufmerksamkeit geschenkt hat, konnte ich mich plötzlich mitteilen, und dieser Film ist das Resultat davon.

Das ist also eine sehr private Geschichte, die Sie erzählen. Ihr Film hat aber weltweit Erfolg. Wie haben Sie aus dieser ganz privaten Geschichte eine universelle Geschichte gemacht?

Zuerst habe ich zwei Elemente dessen, was damals passiert ist, aufgenommen: Die Geschichte dieser Frau, die im Angesicht Ihres Todes lebt, die dank des nahenden Todes jeden Moment ihres Lebens geniessen kann. Und die Einsamkeit der jungen Frau, die so fest das Bedürfnis hat, ihr Leben mit anderen zu teilen. Dann habe ich die Charaktere und die Geschichte ein wenig verändert.

Das war ein sehr schmerzhafter Schreibprozess. Aber danach, beim Drehen, sind diese Schmerzen rausgekommen, sind in den Dialogen und den Filmszenen aufgegangen. Das war eine Art Exekution dieser Gefühle.

Der Titel des Films «Los insólitos peces gato» (deutsch: Die unglaublichen Welse) ist im Film als Aufkleber auf einem Aquarium zu lesen. Warum haben Sie diesen Titel gewählt?

Ein gelbes Auto auf einer einsamen Strasse, rundherum Kinder und zwei Frauen.
Legende: «Los insólitos peces gato» überraschte auf Festivals rund um den Globus. Cineworx

Zuerst sollte der Film «Eine Begegnung» heissen. Aber das war mir zu explizit. Und dann habe ich zu Beginn der Dreharbeiten gesehen, dass im Dekor für den jüngsten der Filmcharaktere, Armando, ein leeres Aquarium bereitstand. Da wollte ich unbedingt im Film etwas damit machen und meine Dekorateurin hat mir einige Zeitschriften über Fische gebracht. Und da habe ich einen Artikel mit diesem Titel «Los insólitos peces gato» gefunden, wo es um eine Welsart in den USA geht, die immer nur in Gruppen lebt, sich nie trennt. Also habe ich eine Winkekatze in das leere Aquarium gestellt und diese Überschrift auf das Aquarium geklebt – und dem Film diesen Titel gegeben. Ausserdem habe ich damit auch die Leute neugierig machen wollen. Die sollten sich erst einmal fragen: Ist das vielleicht ein Animationsfilm, ein Actionfilm oder eine Dokumentation von National Geographic?

Mit Agnès Godard haben Sie eine sehr versierte, bekannte Kamerafrau aus Frankreich. Wie kam es dazu?

Ich wollte unbedingt eine Frau – weil ich glaube, dass Frauen eine besondere Emotionalität in die Bilder bringen. Ich habe erst in Mexiko gesucht, aber niemanden gefunden. Mein Mann hat mich dann gefragt: Wenn Du einfach mal träumst, wen würdest Du dann wollen? Ich habe gesagt: Agnès Godard, weil ich ihre Arbeit so liebe. Aber das war ja nur ein Traum. Dann aber, an meinem Geburtstag, hat mein Mann gesagt: «Ich habe eine Überraschung. Ich habe dieser Frau das Drehbuch geschickt und sie mag es sehr und möchte Deinen Film machen.» Und dann sind wir nach Frankreich gereist und haben mit ihr gesprochen. Und sie hat meinen Film gemacht. So war das.

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