Die Unterscheidung der Bevölkerung in Hutu und Tutsi geht zurück auf die Kolonialzeit. Das Land konnte über die konstruierte Elite der Tutsi besser beherrscht werden. Nach Abzug der Kolonialmächte brachen jahrelang immer wieder Bürgerkriege aus. Das war die Folge dieser rassistischen Einteilung der Bevölkerung. Heute ist die ethnische Differenzierung in Tutsi und Hutu verboten.
Orchestriert wurde der Völkermord durch das private Radio RTLM, Radio-Télévision Libre des Mille Collines. Mit einem gekonnten Mix aus Popmusik, guter Laune, Sportnachrichten und klassischer Musik war RTLM das beliebteste Radio in Ruanda: jung, dynamisch, interaktiv. Wie eine Werbekampagne wurde hier der Völkermord vorbereitet und begleitet.
Milo Rau, Pionier des Reenactments
Milo Rau gilt als Pionier des Reenactments, der künstlerischen Rekonstruktion realer historischer Ereignisse im Theater. Er studierte Tausende von Dokumenten, sprach in Ruanda mit Tätern und Opfern, und kondensierte seine Recherchen auf knapp zwei Stunden Theater. Mit «Hate Radio», dem Theaterstück zum Völkermord in Ruanda, tourte er erfolgreich durch über 15 Länder. Nun ist daraus ein Film entstanden.
Der Zuschauer erlebt einen «typischen» Radioabend. Dieser ist unterschnitten mit Aussagen von Opfern und Tätern des Genozids. Die Rolle der «Hass-Moderatoren» wird von Überlebenden des ruandischen Genozids gespielt. Er habe lange überlegt, wie er den Genozid auf die Bühne bringen könne, so Milo Rau: «Diese unfassbare Grausamkeit, die zu einer Million Toten führte, konzentriert auf die 16 Quadratmeter eines Sendestudios, das hat mich extrem interessiert. Denn das macht die Alltäglichkeit, letztlich die Banalität eines Genozids erfahrbar.»
Von «Hate Radio» zum «Kongo Tribunal»
Afrika beschäftigt Milo Rau bis heute. Der nun seit bald 20 Jahren andauernde Konflikt im Ostkongo ist für ihn symptomatisch für unsere Welt. «Was haben die bald zehn Millionen Toten der Konflikte jener Region mit der Energiewende und der explodierenden Kommunikationstechnologie zu tun? Inwiefern entscheidet sich im äusserst rohstoffreichen Zentrum Afrikas – wo sich Chinas, Amerikas und Europas Interessen teilweise völlig handgreiflich begegnen – der Krieg um die Ressourcen des 21. Jahrhunderts?
Diese Fragen wolle er, ähnlich wie bei den «Zürcher Prozessen» oder den «Moskauer Prozessen», in Form eines Tribunals verhandeln. Deshalb heisse sein aktuelles Projekt «Das Kongo Tribunal».
Genauso wie bei «Hate Radio» zeige sich eine wirtschaftlich und kulturell entgrenzte Welt, in der überall die gleiche Musik laufe und Coltan im Kongo für den Handyboom in Europa abgebaut werde. Hinzu komme, dass sich die ruandischen völkermörderischen Milizen bis heute im Ostkongo versteckten. Rein lokal betrachtet, sei dieser Konflikt eine Folge des Genozids in Ruanda.
Der Künstler hat Verantwortung
Milo Rau will mit Kunst Einfluss auf die Gesellschaft gewinnen. Er frage sich manchmal, was er seinen beiden Töchtern in 20 oder 30 Jahren antworten solle, wenn die Auswirkungen der absurden Ausbeutung der Ressourcen endgültig zu einer Art von globalem Bürgerkrieg geführt hätten, «wenn ich derweil Tschechow dekonstruiert und Shakespeare adaptiert habe?». Rau sieht sich in der Verantwortung: «Ich denke schon, dass man heute als Künstler tatsächlich etwas beitragen sollte zum Überleben des sogenannten Planeten.»
Getreu diesem Credo engagiert sich der unermüdliche Milo Rau in zahlreichen Projekten als Autor, Dozent und Künstler nicht nur fürs politische Theater à la «Hate Radio», sondern immer mehr auch als Filmemacher.