«Box Office»: Frau Potter, Ihr neuer Film «Ginger & Rosa» handelt von zwei Teenagern zur Zeit der Kuba-Krise. Was interessiert Sie so am Jahr 1962?
Sally Potter: Zur Zeit der Kuba-Krise war ich zwar erst zwölf, aber ich spürte genau, was um mich herum lief und ich war schon als Kind bei den Friedensmärschen mit dabei. Die Menschen waren immer noch dabei, sich vom Zweiten Weltkrieg zu erholen. Man konnte spüren, wie sich die Gesellschaft veränderte. Die sexuelle und soziale Revolution war im Anmarsch, die Familienstrukturen veränderten sich. All das geschah mitten im Kalten Krieg. Man lebte im Schatten einer nuklearen Apokalypse. In meinem Film zeige ich das anhand der Gefühle und Gedanken zweier heranwachsender Mädchen. So spiegelt sich das Äussere im Inneren, denn nicht nur in der Weltpolitik, auch im Kleinen gab es gegenseitiges Misstrauen und den Zerfall von Beziehungen.
Wie autobiographisch ist «Ginger & Rosa»?
Im Film stecken viele eigene Erinnerungen und Beobachtungen, aber auch viel Fiktion. Es sind keine Memoiren und ich wollte nie meine eigene Geschichte erzählen. Diese Geschichte sollte wahr sein, aber in einem fiktionalen Sinn des Wortes «wahr», also authentisch.
Abgesehen vom Kalten Krieg stellt man sich die 60er Jahre doch eher als die «Swinging Sixties» vor. Ist das für Sie kein Thema?
Obwohl ich in den 60er-Jahren erwachsen wurde, hatte ich immer das Gefühl, die Party fand an einem andern Ort statt. Ich glaube, da bin ich nicht allein. Einiges, was wir über die 60er-Jahre zu wissen glauben, ist ein Mythos, eine Art Fiktion.
Wären Sie in einer anderen Dekade aufgewachsen, hätten Sie dann andere Filme gemacht?
Eigentlich fühle ich mich an keine spezifische Zeitspanne gebunden. Als Autorin, als Filmemacherin wird man zur Zeitreisenden. Mein Film «Orlando» umspannt über 400 Jahre und ich spürte diese unendliche Kette von Zeit und Erfahrung, in der mein eigenes Leben ein kurzes «Jetzt» bedeutet. Trotzdem hat mein Schaffen klare Einflüsse der 50er- und 60er-Jahre. Bewegungen wie die französische «Nouvelle Vague» oder «The American Underground Cinema» gaben mir die Lust, neue Wege zu entdecken, zu experimentieren. Das hat mein filmisches Schaffen enorm beeinflusst. Die jungen Filmemacher von heute möchten kommerziell erfolgreich sein. Sie suchen nicht nach einer neuen Filmsprache, nach neuen Ideen. Ihnen fehlt dieses aufregende und begeisternde Umfeld, in dem ich mich als junge Filmemacherin befand.
Interessanterweise ist «Ginger & Rosa» ein konventionell erzählter Film...
Ich würde den Film nicht konventionell nennen. Für jemanden wie mich ist eine lineare Erzählweise ganz schön unkonventionell, meinen Sie nicht? Waren meine bisherigen Filme immer so konzipiert, dass sie Grenzen sprengen, so wollte ich mich bei «Ginger & Rosa» voll und ganz auf die komplexe und delikate Verbindung zwischen dem äusseren und dem inneren Leben konzentrieren. Eine experimentelle Erzählweise würde zu sehr davon ablenken.
Sie gelten als feministische Filmemacherin …
Ich bin weder glücklich über diese Bezeichnung, noch ärgert sie mich. Ich verweigere mich ganz einfach jeglicher Benennung, die mit «–istin» endet. Ganz einfach aus dem Grund, weil meiner Meinung nach kein Film das Sprachrohr für eine Ideologie oder eine politische Bewegung sein darf.