«Was soll das heissen, Sie wollen Sex?» Der vom stets umwerfenden William H. Macy gespielte Priester ist perplex. Da hat ihm sein vollständig gelähmtes Schäfchen Mark O’Brien eben erklärt, er wolle mit einer professionellen Therapeutin Sex haben. Und dafür brauche er Father Brendans Segen – oder zumindest die Zusicherung, dass Jesus nichts dagegen hätte.
Keine Berührungsängste, auch nicht zur Komik
Nicht die Behinderung des poliogeschädigten Schriftstellers stört den Priester, sondern der Gedanke an ausserehelichen Geschlechtsverkehr. Aber das mit der Ehe, das habe er ja nach bestem Wissen und Gewissen angegangen, erklärt Mark O’Brien. Und dass ein Mann, der seine Tage und seine Nächte in der eisernen Lunge verbringt, so seine Probleme haben könnte, eine Frau zu finden – das leuchtet auch dem Priester ein.
Filme über Behinderte sind fast grundsätzlich Oscaranwärter. Und ein Film über einen Behinderten und Sex – das ist als Oscar-Rezept todsicher. Aber der 66jährige Ben Lewin, selber aufgrund einer Kinderlähmung lebenslang gehbehindert, interessiert sich vor allem für den Mut und die Risikobereitschaft seiner Figuren. Und er hat keine Berührungsängste, wenn es um Witz und bissige Komik geht.
Mark O’Brien hat wirklich gelebt und geschrieben. Er hat trotz seiner vollständigen Lähmung an der Universität von Berkeley studiert und ein recht erfolgreiches Leben als Autor und Journalist geführt. 1990 veröffentlichte er den Essay «On Seeing A Sex Surrogate» über seiner Erfahrung mit einer Sex-Therapeutin und legte damit einen der Grundsteine für die noch immer laufende Diskussion über Behinderte und ihre Sexualität.
Sex-Therapeutin oder Prostituierte?
Als er auf die Geschichte des Schriftstellers und diesen Aufsatz gestossen sei, habe ihn vor allem eine Frage nicht losgelassen, sagt der 66jährige Australier Ben Lewin. Es ist die gleiche, welche auch Father Brendan im Film stellt: Was unterscheidet eine Sex-Therapeutin, welche mit ihrem Klienten ins Bett geht, von einer gewöhnlichen Prostituierten? Er wisse es nicht genau, erklärt Mark im Film dem Priester. Aber er sei sicher, es gebe einen Unterschied.
Dass es ihn gibt, diesen Unterschied, und dass die Arbeit der Therapeutin nicht nur sinnvoll, sondern auch erfolgreich ist, das beweist die Biographie von Mark O’Brien – und das erzählt der Film «The Sessions».
Helen Hunt spielt die Therapeutin Cheryl, und sie folgt dabei den Erinnerungen und Notizen jener Frau, welche Mark O’Brien seinerzeit mit seinem Körper versöhnt hatte. Darüber hinaus aber stürzt sie das ebenso komische wie rührende Drehbuch von Ben Lewin in eine erhebliche Gefühlsverwirrung. Denn irgendwann merkt Cheryl, dass die professionelle Distanz in ihrer Arbeit nicht unerschütterlich aufrechterhalten werden kann.
Die Schauspielerin Helen Hunt hat Hollywoods Schönheitsideale schon immer erfolgreich über- und unterspielt. Und was sie hier mit vollem und unzimperlichem Körpereinsatz leistet, wird die Anerkennung ihrer Kolleginnen und Kollegen der Academy finden.
«Der kann ja ein Arschloch sein.»
Die tatsächliche Sensation des Films ist allerdings der 54jährige John Hawkes als Mark O’Brien. Und dies nicht darum, weil Hollywood die Darstellung Behinderter fast schon grundsätzlich bejubelt, sei es jene des blutjungen Leonardo DiCaprio in «What’s Eating Gilbert Grape» von 1993, die von Dustin Hoffman als «Rainman» (1988) oder Robert De Niro in Penny Marshalls «Awakenings » von 1990. All diese Darstellungen zielen in der Regel darauf ab, die Behinderung möglichst rührend und menschlich anziehend zu gestalten. Das kann ins Schmierentheater abgleiten, zum Beispiel bei Sean Penn in «I am Sam» mit Michelle Pfeiffer von 2001.
Links zum Film
Was John Hawkes' Darstellung des gelähmten Mark O’Brien so grundsätzlich anders macht, ist die Tatsache, dass man andauernd vergisst, dass man da einem liegenden Mann zuschaut, der ausser Gesicht und Kopf gar nichts bewegen kann. Hawkes verleiht seiner Figur eine Intensität und zugleich eine bisweilen bärbeissige, dann wieder linkische Energie, welche zur Identifikation einlädt. «Der kann ja genauso ein Arschloch sein wie ich» umschreibt dies Regisseur Ben Lewin, «und damit vermeiden wir die Peinlichkeit, die entsteht, wenn das Publikum meint, sein Mitleid sei gefragt.»
Ein «machbares» Projekt
Man kann zu Recht anmerken, «The Sessions» sei ein stromlinienförmiges Kinoprodukt. Schliesslich hat Lewin gerade die «doability» an dem Projekt gereizt, der Umstand, dass es ihm machbar erschien. Die Konstruktion des Drehbuchs ist fast schon lehrbuchmässig, mit der Figur des Priesters bekommt das Publikum einen gutmeinenden Anwalt, der seine Aufgeschlossenheit auch erst aktivieren muss – und dem ich als Zuschauer an Grossherzigkeit einen Schritt voraus sein darf.
Aber der Film packt einen von der ersten Minute an und er entwickelt seine Geschichte mit immer neuen Überraschungen und mit einer zuweilen aberwitzigen Komik. Das ist erstklassiges Handwerk, ein Publikumsfilm mit Ausstrahlung und Verve – und mit einem eindeutigen Standpunkt. Vielleicht gerade darum, weil Regisseur und Drehbuchautor Ben Lewin sich seine Frage selber beantworten wollte.