Stefan Keller (Andy Herzog) ist tief gefallen. Einst war er eine junge Hoffnung des Schweizer Films, doch nun steuert er auf die 40 zu und hat es verpasst, sich einen soliden Leistungsausweis aufzubauen. Immerhin glaubt seine Produzentin noch an ihn, wenn er ihr in den nächsten Tagen den versprochenen Filmstoff liefert. Doch Kellers Kopf ist so leer wie das Textdokument auf seinem Laptop. Leer ist auch sein Bankkonto, und leer ist sein Herz: Kellers Freundin will eine Auszeit.
Dem schwermütigen Autor mit Inspirationspanne bleibt nur noch die Flucht nach vorn: Mitten in der Vorweihnachtszeit packt er seinen Rollkoffer und geht einem kurzfristig ergatterten Gelegenheitsjob nach – er prüft die Hygiene und den Service diverser Jugendherbergen in der ganzen Schweiz. Die Reise durch das verschneite Land verschafft Keller zwar die notwendige frische Luft – aber sein überfälliges Drehbuch kommt weiterhin nicht vom Fleck.
Überraschungen bei den Dreharbeiten
Die beiden Filmemacher Matthias Günter und Andy Herzog drehten «Wintergast» mit einfachsten Mitteln: Ausgehend von einer dramatischen Drei-Akte-Struktur und einer klar abgesteckte Reiseroute durch allerlei Kantone machten sie sich auf den Weg, trafen Bekannte und Unbekannte, filmten dabei in kontrastreichem Schwarzweiss und im Breitleinwandformat, was da auf sie zukam. Die Wendepunkte der Handlung waren von langer Hand geplant; vieles dazwischen hingegen nicht.
Der fertige Spielfilm «Wintergast» lebt von diesem bereichernden Nebeneinander von Kontrolle und Improvisation: Ruhige, ästhetisch ausgefeilte Tableaus fangen die vielfältige Architektur der Jugendherbergen ein und kontrastieren mit der Rastlosigkeit der Hauptfigur. Stefan Kellers Innenleben mag trist sein, aber die unverhofften Situationen, in die er gerät, strahlen viel Wärme und einen stillen Humor aus. Behutsam wird in «Wintergast» ausgelotet, dass Verzweiflung auch ihre komischen Seiten haben kann, und dass Trost von Fremden manchmal Wunder wirkt.
Elegant und spannend zugleich
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«Wintergast» ist einer der schönsten und herzlichsten Schweizer Spielfilme dieses Jahres – sichtlich elegant, aber nie prätentiös, psychologisch durchdacht, aber nie abgehoben: Weil die Menschen hier reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, ergibt sich für das Publikum eine unmittelbare Nähe zum Geschehen, wie sie mit einem herkömmlichen Drehbuch kaum zu bewerkstelligen ist.
Natürlich hat es diese Form von Kino schon gegeben, sie hat sogar einen eigenen Namen: «Cinema Copain». Der Berner Clemens Klopfenstein hat sich darin versucht, und auch der Bündner Christian Schocher hat mit seinem Film «Reisender Krieger» eine diesbezügliche Messlatte gelegt.
Doch Günter und Herzog haben das Rezept emotional stark aufgeladen: Weil man diesen Verlierer namens Stefan Keller so schnell ins Herz schliesst, wünscht man sich auch inniglich, er würde aus seiner Misere und seinem Schreibstau herausfinden, bevor es zu spät ist – und das macht «Wintergast» – ganz nebenbei – auch noch ziemlich spannend.
Kinostart: 29. Oktober 2015