Die allererste Einstellung dieses Films könnte auch die letzte sein. Ein Meer von Blumen, arrangiert in einem einzigen riesigen Gesteck. Die Kamera fährt leicht zurück, das Gesteck erweist sich als Gedeck. Es ist die riesige Festtafel im Speisesaal des Jockey-Clubs in Rio de Janeiro.
Hier trifft sich im August 1936 die intellektuelle und die politische Elite Brasiliens zu Ehren des österreichischen Autors Stefan Zweig, der sich das Land als nächste Station seines Exils ausgesucht hat.
Flüchtlingsbewegung aus Deutschland
Die Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader hat einen riesigen Rechercheaufwand betrieben, um ein paar wenige, ungemein eindrückliche Szenen aus Zweigs Exiljahren auf die Leinwand zu bringen.
Mit dem österreichischen Kabarettisten und Schauspieler Josef Hader (bekannt als Simon Brenner in den Wolf-Haas-Krimiverfilmungen) hat Maria Schrader nicht nur einen überraschenden Hauptdarsteller gefunden, sondern auch einen überragenden.
Haders Stefan Zweig, mit leicht gebückter Haltung und überzeugendem Akzent in jeder Sprache, wirkt in allen seinen Szenen dermassen überzeugend, dass man es dem echten Stefan Zweig übel nimmt, dass er in den wenigen verfügbaren Fotografien anders aussieht.
Keine Kritik aus dem sicheren Exil
Die nächste Station von Zweig und dem Film ist der Schriftsteller-Kongress des PEN-Clubs in Buenos Aires im gleichen Jahr 1936.
Eine lange Liste aus Deutschland vertriebener Autorinnen und Autoren wird verlesen, Emil Ludwig (Charly Hübner) prangert in einer feurigen Rede Nazideutschland an.
Es folgt eine Sequenz in Bahia im Jahr 1941. Zweig ist mit seiner zweiten Frau Lotte (Aenne Schwarz) unterwegs auf einer Vortragsreise und schreibt dabei unermüdlich Briefe und Telegramme, um anderen Menschen auf der Flucht zu Aufenthaltsgenehmigungen und Visa zu verhelfen.
Von den USA nach Brasilien
Im Winter des gleichen Jahres treffen Lotte und Zweig in New York seine erste Frau Friderike (Barbara Sukowa) und ihre Töchter und Zweigs New Yorker Verleger.
Zweig klagt Friderike, dass er kaum mehr Kraft habe, weil er seine ganze Zeit und Energie darauf verwendet, seinen Einfluss und seine Verbindungen für andere Geflüchtete geltend zu machen. Dabei möchte er doch endlich wieder einmal in Ruhe schreiben.
Der vierte Teil des Films zeigt Zweig am Tag seines 60. Geburtstages im brasilianischen Petrópolis im November 1941.
Es ist die letzte Station in seinem Exil, hier wird er noch die «Schachnovelle» schreiben, sein bis heute bekanntestes Werk.
Eine Rekonstruktion mit enormer Kraft
Maria Schraders Film entwickelt über seine einzelnen, wie eigenständige, aufwändige Kurzfilme gebauten Kapitel eine enorme Kraft.
Das ist kein Biopic, keine Künstlerbiografie, sondern eine minutiös recherchierte und dann trotzdem sehr freie Rekonstruktion.
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Dabei kann sich Maria Schrader nicht nur auf ihr extrem präzises Drehbuch verlassen und auf ihre sich wunderbar ergänzenden Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch auf die Kraft ihrer zugleich theatralisch und intim inszenierten Gruppenszenen.
«Vor der Morgenröte» ist ein Film, der einem historische Menschen und Schicksale unmittelbar ins eigene Leben trägt. Das sind keine mahnenden Geister aus der Vergangenheit, das sind wir, unter nur geringfügig anderen Umständen.
Kinostart: 18.8.2016