Es gibt einen Satz im Film «Gabrielle», der aufhorchen lässt. Die Titelfigur, eine 22-jährige Frau, sagt bei einem Empfang stolz in die Runde: «Ich habe das absolute Gehör.» Gabrielle ist – wie die Darstellerin der Figur auch – ungeheuer musikalisch. Sie studiert Musik – wie die anderen Mitglieder ihrer Familie. Der Satz aber erstaunt, weil Gabrielle geistig behindert ist.
Eine Liebe im Kampf mit dem Alltag
Der kanadische Film erzählt die Geschichte dieser Frau, Gabrielle, die im Chor «Les Muses» in Montreal singt. Dort verliebt sie sich in einen ebenfalls behinderten Mitsänger, doch dessen Mutter ist gegen diese Liebe. Und so kämpft Gabrielle gegen allerlei Widerstände: am meisten aber gegen ihre eigenen Einschränkungen durch ihre Behinderung.
Den Chor, der im Film für eine Aufführung mit der kanadischen Chanson-Legende Robert Charlebois probt, gibt es wirklich: Er gehört zur Schule «Les Muses» in Montreal. Gegründet wurde diese Schule 1997 mit dem Ziel, Kurse in künstlerischen Fächern für behinderte Menschen anzubieten.
Studium gegen Vorurteile
Inzwischen ist «Les Muses» ein Konservatorium, in dem Menschen mit Behinderung ein volles, professionelles Studium in Schauspiel, Tanz und Gesang machen können. Um dem Vorurteil zu entgehen, «Kunst für und mit Behinderten» zu machen, ist das Zentrum stark mit der Kunst- und Musikszene Montreals und Kanadas vernetzt und vermittelt seinen Musikern und Schauspielerinnen viele Auftritte.
Dass dieses ungewöhnliche Schulzentrum in Louise Archambaults Film eine so grosse Rolle spielt, ist einem solchen Auftritt zu verdanken: Die Regisseurin entdeckte einen der behindertet Schauspieler, der dann in «Gabrielle» mitspielt, in einem Theaterstück. Danach besuchte sie während eines Jahres immer wieder das Konservatorium «Les Muses».
Die eigenen Grenzen nicht leugnen
«Die Schulung dort», sagt Archambault, «zielt darauf ab, aus den geistig Behinderten Profis zu machen, ohne ihre Grenzen zu leugnen.» Diese Grenzen thematisiert die Regisseurin auch in ihrem Film immer wieder.
Ihre Hauptfigur Gabrielle möchte eigentlich nichts lieber, als in kompletter Autonomie zu leben. Ihr Umfeld fördert sie dabei – und lässt die junge Frau selber die manchmal schmerzhafte Erfahrung machen, dass sie mit ihrer Behinderung eben doch nicht immer autonom sein kann. Etwa wie ihre Schwester Sophie, die eine eigene Wohnung hat und Gabrielles engste Bezugsperson ist.
Schauspielerin mit absolutem Gehör
Links zum Thema
Die Filmemacherin Louise Archambault stellt ihre Hauptfigur in dieses Spannungsfeld zwischen eingeschränktem Alltagsleben und der professionellen Musikerinnenkarriere, die die Chorsängerin anstrebt. «Wollt Ihr, dass man von euch sagt: Nicht schlecht für Behinderte?», fragt im Film der Chorleiter seine behinderten Sängerinnen und Sänger. Eine zentrale Frage, die auch als Leitmotiv für die Schule «Les Muses» gelten kann.
Gabrielle hat als Figur im Film wie auch als Schauspielerin Gabrielle Marion-Rivard das absolute Gehör. Diese besonders grosse Musikalität liegt nicht nur an der musikalischen Familie im Hintergrund. Sondern gerade auch an ihrer speziellen Behinderung.
Eine Krankheit, die musikalisch macht
Ausgerechnet das Williams-Beuren-Syndrom – ein genetischer Defekt, das eine Einschränkung im Alltag bedeutet – ist bei vielen Betroffenen für die grosse musikalische Veranlagung verantwortlich. In diesem WBS-Syndrom ist eigentlich schon das ganze Drama der Figur «Gabrielle» angelegt: hier eine unglaubliche musische Begabung und Professionalität, dort Einschränkung statt voller Autonomie. Der Film «Gabrielle» von Louise Archambault macht das in seiner wunderbar authentischen und doch sehr romantischen Geschichte deutlich.