«Er wurde in den Vierzigern bekannt, war in den Fünfzigern berühmt und in den frühen Sechzigern ein Superstar, ein Mann, der zumindest in den Vereinigten Staaten so sicher erkannt wurde wie damals Alfred Hitchcock.» So schrieb die Filmpublizistin Verena Lueken 2012, als Premingers Œuvre bei den Filmfestspielen in Locarno gezeigt wurde.
Und – er war seiner Zeit voraus. Otto Preminger, der Nonkonformist, der mutige Regisseur, der keine Scheu vor provozierenden Themen hatte. Er legte sich mit der Kirche an, mit dem Politikbetrieb in Washington und mit den anderen Scheinheiligen Amerikas. Der Mann aus dem alten Europa hat dem amerikanischen Kino beigebracht auszusprechen, was im wirklichen Leben geschieht. Und Preminger war es, der als erster das fest verankerte Studiosystem ins Wanken brachte und den Hays Code, der vorschrieb, wie Sex und Kriminalität in Filmen dargestellt werden dürfen. Preminger besass den Mut, ausserhalb dieses Systems zu produzieren.
Spionagefilm über das heisse Eisen «Apartheid»
Auch in seinem letzten Film «The Human Factor» packte der Regisseur mit der Apartheid ein heisses Eisen an und kritisierte die als repressives System organisierte südafrikanische Gesellschaft. Maurice Castle (Nicol Williamson) und sein befreundeter Kollege Arthur Davis (Derek Jacobi) arbeiten in der Afrika-Abteilung des britischen Aussenministeriums.
Als bekannt wird, dass vertrauliche Dokumente aus der Abteilung in Moskau auftauchen, fällt der Verdacht sowohl auf Castle, der mit einer farbigen Südafrikanerin (Iman) verheiratet ist, als auch auf seinen lebenslustigen Kollegen Davis.
In Rückblenden erzählt Preminger, wie Castle als Beamter der britischen Spionageabwehr in Afrika tätig war und aus verbotener Liebe zu einer farbigen Südafrikanerin zum Doppelagenten wird. Der Spionageverdacht seiner drei Vorgesetzten Dr. Percival (Robert Morley), Sir John Hargreaves (Richard Vernon) und Colonel Daintry (Richard Attenborough) konzentriert sich immer mehr auf Castles trinkenden Kollegen Davis. Als eine manipulierte Meldung aus der Abteilung weitergegeben wird, scheint Davis enttarnt, und er wird eliminiert. Doch bald erkennt man den Irrtum, und jetzt ist Castle der Gejagte.
Menschliche Beziehungen sorgen für Dramatik
Wer nun viel Action erwartet, wird enttäuscht. Preminger erzählt die Geschichte von Verrat aus Liebe leise und bedächtig, in ruhigen Einstellungen, aber auch in harten Schnitten und brutalem Szenenwechsel. Die zwischenmenschlichen Beziehungen stehen im Vordergrund und verleihen dem Film die nötige Spannung und Dramatik.
Das Leitmotiv von «The Human Factor», der auf der literarischen Vorlage von Graham Greene basiert, ist der Platz den das Individuum in einer geordneten «zivilisierten» Gesellschaft einnimmt. Ästhetisch folgt Preminger diesem Leitmotiv: Die Büros, die Strassen und Restaurants, das Haus, in dem Maurice lebt, lassen uns eintauchen in ein geordnetes Universum, rechteckig und fantasielos, das uns in seiner düsteren Monotonie zu ersticken droht. Selbst die Stimmen der Darsteller sind unaufgeregt und linear.
Eine Gesellschaft ohne Gemeinschaft
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Preminger zeichnet also das Bild einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne eingeschlossen in einem Kästchen lebt, ganz nach dem Vorbild eines Gemäldes von Mondrian, das im Zimmer des Geheimdienstchefs Daintry hängt: Abgegrenzte monochromatische Flächen in perfekter Symmetrie.
Die Abgrenzung findet sich überall – in den zwischenmenschlichen wie den beruflichen Beziehungen, in der Kluft zwischen Ost und West, in der von der Apartheid diktierten Rassentrennung. Abgrenzung als Hürde, die von der Unfähigkeit zeugt, zusammen, auf Augenhöhe und in Frieden, zu leben.
Abgründe hinter der perfekten Fassade
In diesem System ist Maurice Castle der ideale Prototyp. Ein gewöhnlicher Mann und perfekter, weil pedantischer, Funktionär. Doch das Bild täuscht: Hinter der konformen Fassade tun sich Abgründe auf, und im perfekten System entstehen Risse. Der menschliche Faktor ist irrational und unkontrollierbar frei.
Diese Freiheit nimmt bei Preminger visuell einen anderen, intimen Raum ein. In den Momenten der Zärtlichkeit kommt die sonst statische Kamera in eine fliessende Bewegung und widerspiegelt gleichsam die innere Aufwühlung.
Die menschliche Freiheit ist bei Preminger ein Ort der Selbstaufgabe. Nachdem Maurice Sarah begegnet ist, kann er die Regeln seines Landes nicht mehr respektieren. Von nun an lebt Maurice für diese Liebe und in andauernder Gefahr. Entgegen den Erwartung entpuppt sich der umsichtige Konformist als Mann, der die grössten Risiken eingehen kann.
Die Liebe als Raum für Subversion und Freiheit
In Premingers Film nimmt die Liebe die Rolle der Subversion und inneren Freiheit ein, «unser Land» wird es Sarah nennen. Dieses Land wird Maurice nicht verraten – aber seine Heimat. Deswegen hängt Maurices Leben an einem seidenen Faden, der im Film von der Strippe des Telefons symbolisiert wird. Telefonate ziehen sich durch den Film, meist kommt die Verbindung gar nicht erst zu Stande oder bricht ab, wie am Schluss auch die Beziehung zwischen Sarah und Maurice.
Preminger interessiert sich für die Beweggründe seiner Figuren. Da diese von aussen nicht sichtbar sind, ist es umso schwerer, ihre Manifestation zu verstehen. Und von aussen gesehen kann Maurices Handeln nur als untragbar und unentschuldbar gelten.
Das Unverständnis für die Beweggründe ist ein wiederkehrendes Motiv in Premingers Werk. Wie interagiert der menschliche Faktor, dieses intime Selbstverständnis, mit dem, was gesellschaftlicher Konsens ist? Preminger ermuntert uns, unsere Beweggründe zu hinterfragen und zu begreifen, unter welchen Umständen sie entstanden sind.
«The Human Factor» ist ein wundervoller Film, der zu Unrecht kaum bekannt ist. Höchste Zeit, dass sich das ändert.