Ein älteres Ehepaar steht am Bahnhof zwischen hektischen Menschenmengen und wartet auf seinen jüngsten Sohn. Eine Weile lang ist das Klingeln eines Handys zu hören, bis der Mann die Frau darauf aufmerksam macht, worauf sie umständlich das kleine Gerät aus der Tasche zieht und antwortet. Es ist die Tochter, die verkündet, ihr Bruder hätte sich im Bahnhof geirrt und käme gleich. Die Mutter nickt, legt auf und informiert den Vater, welcher wütend beschliesst, ein Taxi zu nehmen. Der Junge wird schon begreifen, dass sie nicht länger warten wollten.
Die Familie, in der keiner keinen versteht
Nicht einmal zehn Minuten von Yoji Yamadas «Tokyo Family» sind verstrichen und schon ist klar: In dieser Familie funktioniert die Kommunikation nicht so, wie sie sollte. Da helfen auch keine modernen Verständigungsmittel. Die fehlende Verständigung führt zum fehlenden Verständnis und die Emotionen werden hinter guten Mienen höflich kaschiert. Die Familienmitglieder liefern sich ein Schauspiel, das sich tief in die Struktur der Bindungen eingeschrieben hat: Eltern spielen Eltern, Kinder Kinder.
Die Geschichte um die Tokioter Familie, in der keiner keinen versteht, ist altbekannt. Nicht nur, weil sich jeder Zuschauer zu einem gewissen Ausmass in den Figuren wiedererkennt, sondern weil es fast die exakt gleiche Story als Film schon einmal gab: 1953 brachte der japanische Regisseur Yasujiro Ozu die Familiengeschichte unter dem Namen «Tokyo Story» auf die Leinwand. Der Film mit seinen eigenwilligen Kameraeinstellungen (die Kamera bewegt sich selten und befindet sich meist auf der Höhe eines sitzenden Menschen) avancierte schnell zum Klassiker japanischer Filmgeschichte und wird bis heute regelmässig als einer der besten Filme aller Zeiten genannt.
Gelungene Überführung ins Jetzt
Mit «Tokyo Family» hat Yoji Yamada, einst Assistent Ozus, eine grandiose Hommage an seinen Lehrer geschaffen, die dem Original in nichts nachsteht. Obwohl er die Besetzung des Films leicht verändert hat (einige Protagonisten fallen weg, andere kommen neu dazu – darunter jemand, der im Original verstorben ist), vermag es Yamada, die Figuren und ihr Umfeld ins Hier und Jetzt zu überführen.
Die Geschichte ist das Eine – die eigentliche Schwierigkeit bestand jedoch darin, den noblen Zauber Ozus beizubehalten, den Regisseur Wim Wenders einst so passend aus Ozus Werk herauslas: «Niemals zuvor und niemals wieder war der Film so nahe seiner Essenz und seiner Bestimmung: ein Bild zu zeigen vom Menschen in unserem Jahrhundert, ein brauchbares, wahres und gültiges Bild, in welchem er nicht nur sich selber sieht, sondern vielmehr etwas über sich selbst lernen kann.»
Dieses Bild ist Yamada vorzüglich gelungen. «Tokyo Family» ist «Tokyo Story» mit frischem Gesicht, Hochgeschwindigkeitszügen und Mobiltelefonen – und der Innenwelt einer Familie, die auch nach 50 Jahren immer noch brauchbar wahr und verzaubernd gültig ist.