Wir befinden uns an einem sonnigen, abgelegenenen Strand zwischen einem kleinen See und einem angrenzenden Wald. Hierher kommen Männer, die auf der Suche sind nach unverbindlichen sexuellen Abenteuern, nach intimsten Handlungen mit Fremden. «Es ist eine spezielle Art von Gemeinschaft, in der man gemeinsam allein ist», erklärt der Regisseur und Drehbuchautor Alain Guiraudie die Wahl seines Schauplatzes. «Man ist zwar auf der Suche nach körperlichen Kontakten, möchte aber gleichzeitig, dass sie möglichst unverbindlich bleiben.»
Guiraudie hat selbst schon Zeit an solchen «Cruising Spots» verbracht und erkannte daher das dramatische Potenzial einer Geschichte, die an einem solchen Ort spielt – zumal so etwas bisher noch selten auf der Leinwand zu sehen war. Schnell hat ihn dabei die Frage interessiert, was geschieht, wenn eine solche sexuelle Begegnung nicht unverbindlich bleibt.
Der Liebhaber ein Mörder
In «L'inconnu du lac» verliebt sich der junge Franck in den gut gebauten Michel. Er sucht dessen Nähe, obwohl er sein düsteres Geheimnis kennt: Michel hat am Abend zuvor seinen letzten Liebhaber anscheinend grundlos im See ertränkt. Der Mann könnte ein brutaler Serienmörder sein. Franck weiss, dass ihm dasselbe Schicksal drohen könnte wie seinem Vorgänger. Doch diese Gefahr erregt ihn zusätzlich.
Natürlich liegt viel psychologische Kraft in der Geschichte eines Mannes, der aus Liebe seinen eventuellen Tod in Kauf nimmt oder, überspitzter gar, in einer Liebesbeziehung letztlich nichts anderes sucht als den eigenen Tod. Doch die psychologischen, gar freudianischen Aspekte der Situation hat Guiraudie bewusst ausgeblendet.
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Romantik statt Psychologie
«Da ich mich selbst noch nie in einen Mörder verliebt habe, wäre ich mir gar nicht sicher gewesen, ob ich auf der psychologischen Ebene die richtigen Töne treffe», kommentiert Guiraudie diese Entscheidung. «Ausserdem soll der Film auch keine Wertung darüber enthalten, ob das, was meine Figur in diesem Film macht, nun gut oder schlecht ist. Er stürzt sich einfach Hals über Kopf in diese gefährliche Liebesgeschichte, und das finde ich schön. Eine grosse romantische Vorstellung!»
Perfide an dieser romantischen Idee ist natürlich, dass sie in einem Kontext angesiedelt ist, wo Romantik nicht hingehört: An einem Ort, an dem es den ungeschriebenen Regeln zufolge nur um Sex gehen sollte, allenfalls um Zärtlichkeit. Weil er diesen Kontrast zwischen Romantik und rein körperlicher Liebe betonen will, zeigt Guiraudie nackte Männerkörper zuhauf, oft in eindeutigen Situationen – gänzlich ohne Scham, aber mit viel Humor.
Regiepreis in Cannes
«Schockiert ist darüber kaum jemand, das war auch nicht meine Absicht. Ich betreibe ja keinen Etikettenschwindel, und die Leute können lesen, was auf der Packung steht. Allerdings bin ich selbst etwas erstaunt darüber, dass der Film so viel Zustimmung und Anerkennung erhält – ich hatte eigentlich erwartet, dass ihn einige Leute allein aufgrund der Thematik hassen würden», kommentiert Guiraudie die Reaktionen.
Dass «L'inconnu du lac» in Cannes einen Regiepreis gewonnen hat und nun überall auf der Welt zu sehen ist, hat sicher mit seinem originellen Blick auf eine selten gezeigte Welt zu tun, aber auch mit seinen technischen Qualitäten und seiner formalen Dichte: Die mit Naturlicht eingefangen Bilder von der Morgendämmerung über die Mittagshitze bis ins Abendrot bezaubern, die Tonkulisse aus Wellengeplätscher und Vogelgezwitscher betört, und die Reise auf das unausweichlich scheinende Ende zu bleibt spannend und sinnlich.