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Film & Serien «Virgin Tales» – verstörender Blick in christliche Märchenwelt

Mirjam von Arx zeichnet mit «Virgin Tales» ein vielschichtiges Porträt der Familie Wilson. Der Dokumentarfilm bietet Einblick in die Welt evangelikaler Christen in den USA, welche die Keuschheit vor der Ehe als oberstes Gebot pflegen.

Den ersten Kuss vor dem Traualtar tauschen – dieses Ideal echter Enthaltsamkeit leben die Mädchen der Familie Wilson in Colorado Springs, USA. Die Mitglieder der neunköpfigen Familie Wilson sind evangelikale Christen und stehen im Zentrum des Dokumentarfilms «Virgin Tales» der Schweizer Filmemacherin Mirjam von Arx.

Zwei Jahre lang begleitete von Arx die Wilsons und dokumentierte, wie Amerikas religiöse Rechte mit grossem Aufwand und der Inszenierung sogenannter Keuschheitsbällen (engl. «Purity Balls») eine junge Generation von «Virgins» – also Jungfrauen – darauf vorbereitet, eine evangelikale Utopie zu verwirklichen.

Als Jungfrau in die Ehe gehen

Eine Utopie – so kann man dieses Bemühen um Keuschheit benennen. Denn dank der propagierten enthaltsamen Lebensweise soll die amerikanische Gesellschaft aus Sünd' und Elend gerettet werden. Dem zu Grunde liegt das Versprechen, ein Märchen zu erleben, wenn man sich dieser Philosophie unterordnet.

Und der Filmtitel verrät: Hier wird ein attraktives Märchen verkauft. Die alljährlich stattfindenden «Purity Balls» sind Bestandteil einer Märchenwelt, die mit viel Aufwand inszeniert wird. Die jungen Mädchen werden glamourös zurechtgemacht – um dann von ihren Vätern zum Keuschheitsball geführt zu werden. Dort tanzen sie verzückt und voller Hingebung um das Kreuz Jesu.

Im Rahmen der Zeremonie geloben die Väter der grösstenteils minderjährigen Mädchen vor Gott alles zu tun, um ihre Töchter keusch auf dem Weg in die Ehe zu begleiten. Dieses Gelübde wird von den Mädchen als Zeuginnen unterschrieben.

Krieger und Prinzessinnen: stereotype Märchenerzählung

Mirjam von Arx erklärt das Prinzip dieses Märchens: Die Mädchen sind Prinzessinnen, die auf ihren Traumprinzen warten. Die jungen Männer hingegen sind die Krieger, welche die Prinzessinnen erobern müssen. Als Belohnung für die Enthaltsamkeit vor der Ehe wartet nach der Hochzeit überirdisch guter Sex – worin sich die Bewegung von anderen, lustfeindlich eingestellten religiösen Konzepten unterscheidet.

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Das stereotype Bild des Märchens mit den Männern als Krieger beinhaltet durchaus eine politische Dimension. So sind denn auch die beiden Ehemänner der ältesten Töchter Berufssoldaten, und auch die Söhne der Wilsons möchten der US-amerikanischen Armee im Krieg gegen den Feind dienen.

Persönliches Videotagebuch

Einen besonderen Reiz des Films schaffen die Auszüge aus dem bisweilen sehr persönlichen Videotagebuch von Jordyn, dem viertältesten Kind der Wilsons. Jordyn ist unverheiratet – einen Beruf zu erlernen oder gar zu studieren erachtet sie als vollkommen überflüssig. Eifrig bereitet sie sich auf die Rolle als Mutter und Hausfrau vor, gibt Kurse in gutem Benehmen und Haushaltsführung. Im Film sehnt sich die Wilson-Tochter danach, von ihrem Traumprinzen gefunden zu werden und endlich eine Beziehung führen zu können.

In der Zwischenzeit hat sich Jordyns Traum erfüllt, heute ist auch sie verheiratet. Nach Abschluss der Dreharbeiten lernte sie ihren Ehemann kennen, auch er Mitglied derselben Kirchgemeinde. Ihr Zukünftiger hatte, wie es sich in diesem Umfeld gehört, erst ihren Vater kontaktiert und ihn gebeten, Jordyn treffen zu dürfen. Kurz darauf folgte die Verlobung, seit Frühling 2012 sind die beiden verheiratet.

Latent ambivalent

Die Jungfräulichkeit und die unterschiedlichen Konzepte im Umgang mit dem Thema beschäftigen Mirjam von Arx schon länger. Nebst kulturellen und psychologischen Aspekten interessierten sie nicht zuletzt die Fragen nach der damit verbundenen Machtausübung auf junge Frauen.

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Die Mitglieder der Familie Wilson erwiesen sich als ideale Protagonisten: Mit ihrer Art lösen sie eine Ambivalenz aus, die der Thematik gerecht wird. Von Arx erklärt: «Es ist keine intellektuelle Ambivalenz, sondern eine affektive. Als Beobachter wird man immerzu hin- und hergeworfen, findet sie mal sympathisch, dann wieder abstossend».

Gespaltene Reaktionen

«Virgin Tales» wurde mittlerweile an zahlreichen Festivals gezeigt, viel wurde darüber geschrieben. Oft fielen die Reaktionen auf den Film bezogen positiv – auf die Wilsons hingegen harsch aus. Dazwischen mischte sich laut von Arx immer wieder grosses Erstaunen, auch in den USA: «Oft bekam ich den Satz zu hören: ‹Ich wusste gar nicht, dass es das gibt!›. Scheuklappen gibt es offensichtlich auf beiden Seiten».

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