«Visions du Réel» – das klingt etwas gar gewollt nach Anspruch. Seit 20 Jahren nennt sich das internationale Dokumentarfilm-Festival von Nyon nun schon so. Doch selten passte das diffuse Versprechen, künstlerisch gehaltvolle «Visionen der Wirklichen» zu zeigen, so gut zum Programm wie dieses Mal. Festivalleiter Luciano Barisone hat viele Regisseure eingeladen, die sich seit Jahren mit unsichtbaren Wirkkräften beschäftigen. Und deren filmische Annäherungsversuche es wirklich verdienen, Visionen genannt zu werden.
Unheimlich romantisch: Liebeskummer im Bild
Beim Ringen um visionäre Bilder an vorderster Front mit dabei ist auch ein Schweizer: Dokumentarfilmer Christian Frei. Sein Sujet: Liebeskummer. Sein Drehplatz: Die Single-Metropole New York. Sein Clou: Ein Kamerasystem, welches zwei Brennweiten zu einem faszinierenden Bild kombiniert, das den Eindruck von Einsamkeit vermittelt. «Sleepless in New York» heisst die Liebeskummer-Studie, die das Gefühl der frisch Verlassenen treffend widerspiegelt.
Dass Trennungen an die Substanz gehen können, haben wir freilich schon vor Christian Freis Dokumentation gewusst. Doch selten wurden so stimmige Bilder für das Gefühl der Verlassenheit gefunden, wie in diesem wunderbar universellen Film. Die Botschaft: Unterschätze nie die Kraft der romantischen Liebe. Christian Frei widerspricht damit den 68ern, welche die romantische Zweierkiste für eine überholte Erfindung des 19. Jahrhunderts hielten: «Liebe ist keine Erfindung der Troubadoure, sondern eine unleugbare Tatsache, die man nicht belächeln sollte.»
Unheimlich zerstörerisch: Radioaktivität im Bild
Von einer ganz anderen unsichtbaren Kraft, die an die Substanz geht, handeln die Werke des deutschen Regietalents Sebastian Mez. Seit der Katastrophe von Fukushima im Jahre 2011 versucht der junge Dokumentarfilmer, Kinobilder für Radioaktivität zu finden. «Substanz» ist bereits seine zweite kreative Auseinandersetzung mit dem Thema.
Die richtige Form für seinen 14-minütigen Experimentalfilm hat Sebastian Mez beim Herumspielen mit einem Bildkompositions-Programm gefunden: Durch das Übereinanderlegen mehrerer Aufnahmen entstand genau die geheimnisvolle Art von Brüchigkeit und Durchlässigkeit von Materie, nach der er gesucht hatte.
Als Zuschauer sieht man bisweilen ein Mosaik aus zehn verschiedenen Bildschichten. Das Ergebnis ist eine Verdichtung in jeder Hinsicht: Die kunstvolle Überlagerung zaubert aus dokumentarischem Bildmaterial ein beklemmendes Symbolbild für die atomare Bedrohung. Das Kompliment, Radioaktivität sichtbar gemacht zu haben, weist Sebastian Mez dennoch freundlich zurück: «Wirklich sichtbar machen lässt sich Radioaktivität nicht. Höchstens erfahrbar. Ich bin schon glücklich, wenn ich den Zuschauern mit meinem Film das Gefühl vermitteln kann, das ich beim Drehen in Fukushima hatte.»