«Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt»: Das Kinderlied «Guten Abend, gute Nacht» wird in einer Fernsehversion aus den 1950er- oder 60er Jahren am Anfang von «Ich seh ich seh» vorgetragen. Eine liebende Mutter (gespielt von Susanne Wuest) und ihre hübschen Kinder singen es. Mutter- und Kind-Liebe, das Ideal und der Kern jeder Familie. Dass dieses Ideal im Verlauf des Films zerstört werden wird, ist da schon ziemlich absehbar.
Nach der Operation ist alles anders
Der Film beginnt mit fröhlich spielenden Zwillingen. Die Knaben Elias und Lukas sind etwa 10 Jahre alt, rennen durch ein Maislabyrinth, erforschen dunkle Höhlen und hüpfen über einen Boden, der zwar fest ist, aber trotzdem über einem Sumpf seltsam schwabbelt. Fröhliche Kinderspiele, aber in ihrer Symbolik auch schon Bilder, die dem genregeübten Zuschauer zeigen: Hier wird noch manche falsche Fährte gelegt, hier kommt noch einiges aus dem Dunkel ans Tageslicht, hier geht man auf unsicherem Boden.
Dann kommt die Mutter der beiden nach Hause, den Kopf einbandagiert, sie scheint eine Operation hinter sich zu haben. Sie ist verändert, reizbar, ungerecht. Und beim Spiel «Wer bin ich» findet sie trotz Hinweise der Söhne, sie sei tierliebend und habe zwei Kinder, nicht heraus, dass auf dem Zettel auf ihrer Stirn «Mama» steht.
Die Mama ist nicht mehr die Mama
Was mit ihr passiert ist und warum sie den einen der beiden Zwillingsbrüder mit Nichtbeachtung bestraft, wird nicht explizit erklärt. Aber dass etwas Schlimmes vorgefallen ist, was die früher so fröhliche Beziehung zwischen Mutter und Söhnen belastet, ist klar.
Weil die Mama so anders ist, sind Elias und Lukas bald überzeugt: Das ist nicht die Mutter. Und sie müssen diese Frau dazu bringen, zu erzählen, wo ihre echte Mutter ist – und zwar mit allen Mitteln.
Horrorfilm und Familiendrama in einem
Die österreichischen Filmemacher Veronika Franz und Severin Fiala haben den Film «Ich seh ich seh» geschrieben und gedreht. Sie suchen die Ausgangslage für Ihre Geschichte im Urvertrauen: Dieses ist verkörpert in der Beziehung zwischen Kind und Mutter. Und dann fangen sie an, dieses Urvertrauen zu sezieren, und beobachten unter dem Brennglas, was dann passiert. Langsam, sehr ruhig, eiskalt. Das ist blanker Horror, zumal das Seziermesser und das Brennglas nicht nur metaphorisch zur Anwendung kommen.
«Ich seh ich seh» ist ein Horrorfilm aus dem Lehrbuch, mit Elementen und Wendungen, die man auch schon in diesem Genre gesehen hat – und die trotzdem noch zu überraschen oder zu schockieren vermögen. Aber er ist nicht nur Horrorfilm: Darunter liegt auch ein Familiendrama, das genau beobachtet, wie sich Familienbeziehungen und Charaktere nach einem einschneidenden Ereignis verändern.
Ein Film, der länger nachhallt
So gesehen hat der Film zwei Ebenen – diese sorgfältige Studie familiärer Strukturen, die anfangen zu bröckeln. Und dieser unglaublich gut gemachte Psychothriller und Horrorfilm, der mit sehr klassischen und bekannten Elementen und Schockmomenten aufwartet und manchmal fast nicht auszuhalten ist. Das Resultat ist irgendwo zwischen den Gewaltessays eines Michael Haneke und den unerbittlichen Studien österreichischer Gesellschaft eines Ulrich Seidl angesiedelt, der den Film auch produziert hat.
«Ich seh ich seh» ist ein grossartiger Film, der länger nachhallt. Ein Film über Familie – aber ganz und gar kein Familienfilm. Und deshalb für Zartbesaitete nicht uneingeschränkt zu empfehlen.