Auf den ersten Blick ist Nichols‘ «Loving» ein konventioneller Film über die letzten Blüten der offiziellen Segregation in den USA , eine weitere «Fallstudie» über institutionellen Rassismus in den USA. Aber Nichols unterläuft sehr subtil die Erwartungen des Publikums, immer und immer wieder – bis er sie dann augenzwinkernd «übererfüllt», wenn es niemand mehr erwartet.
Heimliche Heirat
Das beginnt bei der Besetzung. Joel Edgerton, der den weissen Maurer Richard Loving spielt, sieht aus wie der klischierte Redneck-Rassist: bullig, fleischig, mit ultrakurzen blonden Haaren. Ein Mann, dem man nicht vor die Fäuste geraten möchte.
Seine geliebte Mildred (Ruth Negga) dagegen ist eine feine und intelligente schwarze Frau. Über ihre leicht nervöse Ankündigung, sie sei schwanger, ist Richard begeistert – und macht Mildred einen Heiratsantrag. Geheiratet wird heimlich im benachbarten Bundesstaat Washington DC.
Verbotene Liebe
Die Hochzeitsurkunde wird eingerahmt und übers gemeinsame Bett gehängt. Das nützt allerdings nichts, als mitten in der Nacht die Polizei das Haus stürmt und sie verhaftet: Im Staat Virginia ist die Ehe der Lovings illegal.
Vor Gericht erwirkt ihr Anwalt einen Deal: Die einjährige Gefängnisstrafe wird ausgesetzt, falls sie sich schuldig bekennen. Dafür dürfen sie während 25 Jahren Virginia nicht mehr gemeinsam betreten. Die Lovings nehmen den Vorschlag an und verlassen ihre Heimat.
Gefilmt ist das alles in satten Herbst- und Sommerfarben, die 1950er-Jahre werden durch die aufwändige Ausstattung perfekt rekonstruiert, von den Autos bis zur Maurer-Technik.
Präzedenzfall der Bürgerrechtsbewegung
In Washington DC, wo das Paar bei Mildreds Tante unterkommt, wächst die kleine Familie bald auf fünf Köpfe an. Richard hat genügend Arbeit, aber Mildred vermisst das Land und die Wiesen.
Am 28. August 1963 überträgt das Fernsehen live den grossen Marsch nach Washington und die Rede von Martin Luther King. Ermutigt durch ihre Tante schreibt Mildred dem U.S. Attorney General Robert Kennedy einen Brief und schildert ihren Fall.
Daraufhin meldet sich ein Anwalt der Bürgerrechtsbewegung bei ihr und bietet an, für alle Kosten aufzukommen, sollten sich Mildred und Richard entschliessen, den State of Virginia zu verklagen. Beiden ist klar, dass es dabei nicht in erster Linie um sie und ihre Familie geht, sondern um einen Präzedenzfall, den die Organisation bis vor den Supreme Court bringen möchte.
«Loving» ist ein Schauspielerfilm
Regisseur Jeff Nichols hält die Spannung, indem er einzelne Figuren wie die Anwälte nicht eindeutig zeichnet. Vor allem aber, indem er eine subtile Spannung zwischen Mildred und Richard legt: Er will seine Familie schützen, sie möchte Gerechtigkeit.
Die Lovings ziehen schliesslich heimlich zurück in ihre alte Nachbarschaft in Virginia, weil es Mildred in der Grossstadt für ihre Kinder nicht mehr sicher genug ist. Da spielt Nichols über eine ausgedehnte Sequenz virtuos mit den Klischees und Spannungen eines Beziehungsalltags. Im Gegensatz dazu verzichtet er auf die grossen Gerichtsszenen, die jeder andere Film zum Thema genüsslich ausgespielt hätte.
«Loving» ist ein Schauspielerfilm, das Leben kommt aus den Gesichtern der Darsteller. Joel Edgerton und Ruth Negga sind grossartig, und Michael Shannon, der in keinem Jeff Nichols Film fehlen darf, hat einen kurzen, aber pointierten Auftritt als «Life»-Fotograf.