Er mag zu den meistdekorierten Filmemachern der Gegenwart gehören. Doch Michael Haneke hat nicht nur Freunde auf dieser Welt.
Als sein letzter Film «Amour» 2012 in die Kinos kam, stellten die renommierten «Cahiers du Cinéma» zwar die beiden Hauptdarsteller Emmanuelle Riva und Jean-Louis Tringtinant aufs Cover. Sie signalisierten jedoch bereits auf dem Titelblatt ihre Ablehnung des Films: «Haneke: Amour & Misanthropie» .
Ein Voyeur des menschlichen Verfalls?
Im Heft dann: Über mehrere Seiten verteilt nicht nur kritische, sondern regelrecht vorwurfsvolle Texte zu Hanekes Film, der zu diesem Zeitpunkt bereits die Goldene Palme in Cannes gewonnen hatte, noch nicht aber den Oscar als bester fremdsprachiger Film.
Der Grundtenor: Michael Haneke sei ein moderner Menschenfeind, der emotionslos und zynisch seine leidenden Protagonisten in Szene setzt; ein Voyeur des menschlichen Zerfalls und ein vermeintlicher Moralist obendrein – bloss ohne ernsthaften Erkenntnisgewinn.
Der nüchterne und distanzierte Blick
Es stimmt: Hanekes Filme handeln nicht erst seit «Amour» vom menschlichen Leiden im Allgemeinen und von sinnlos wirkender Gewalt im Speziellen.
Es stimmt: Der Blick darauf ist nüchtern und distanziert. Und es stimmt ebenfalls: Hanekes Filme erwecken den Eindruck, hier sei nicht nur ein Erzähler und Philosoph, sondern auch ein strenger Moralist am Werk. Ein Autor, der sich haargenau überlegt, ob er seine Figuren in einer Situation richtig oder falsch handeln lässt, und der dem Publikum nur bedingte Freiheiten lässt, dieses Handeln selbständig zu werten.
Ein Denker, der sich unbequeme Fragen stellt
Nur kann man das alles natürlich auch ins Positive münzen. Zahlreiche Jurys und Kritiker haben das in der Vergangenheit immer wieder getan: Haneke, der all seine Filme selbst schreibt und sich ein Maximum an gestalterischer Freiheit herausnimmt, ist ein Denker, der sich unbequeme Fragen zur menschlichen Spezies stellt und komplexe Antworten darauf findet.
Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft bei ihm diffus. Vieles, was seine Figuren tun, ist verstörend, weil a priori unmenschlich.
«Happy End» in Cannes
Nun ist Michael Haneke wieder im internationalen Wettbewerb am Filmfestival von Cannes vertreten – mit einem Film namens «Happy End». Wie ironisch dieser Titel zu verstehen ist, wird sich erst noch weisen müssen.
Was wir bereits wissen: Der Ensemble-Film soll in Calais und London spielen. Es ist das Porträt einer bürgerlichen Familie, die mit dem Schicksal von Migranten konfrontiert wird, bis – O-Ton Haneke – «das Ganze dann eskaliert». An Bord sind Jean-Louis Trintignant, Isabelle Huppert, Matthieu Kassovitz und Toby Jones.
Bei den «Cahiers» mag man allein am diesem Kurzbeschrieb die Nase rümpfen: Der Bürgersohn Haneke schiesst sich wieder auf das Bürgertum ein, bringt mit der Migrationsfrage eine in Festivalfilmen schon fast obligate Thematik ins Spiel und verspricht zudem, dass auch diesmal wieder alles den Bach runter geht.
Der erste mit der dritten Palme?
Aber warten wir den fertigen Film ab. Warten wir ab, welche unangenehmen Lehren uns Haneke diesmal erteilen möchte. Für Überraschungen war er trotz seiner unverkennbaren Handschrift auch in der Vergangenheit immer wieder gut.
Ob er nun aber – als erster Regisseur überhaupt – eine dritte Palme nach Hause nehmen kann, hängt weniger von seinem unbestrittenen Talent ab, sondern vielmehr von der Frage, ob ihm zu den gewählten Themen auch Dinge eingefallen sind, die er uns nicht schon zuvor verklickert hat. Denn die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht.