Ein hypermuskulöser Oberkörper lässt eines der Jubiläumsplakate zum 70. Festival von Locarno beinahe platzen. Der Wunsch, Männlichkeit auf diese Art zur Schau zu stellen, ist Thema in mehreren Filmen am Festival.
Es gibt eine Tendenz, gerade unter jungen Männern, ihr Mannsein über Körperlichkeit und Kraft zu definieren. Krafttraining und Fitnessstudios haben Zulauf wie noch nie zuvor. Dahinter steckt auch eine grosse Verunsicherung in einer sich schnell wandelnden Gesellschaft.
Verunsicherte Männer
Frauen haben mehrere Generationen Feminismus hinter sich. Sie haben traditionell männlich markierte Eigenschaften in weibliche Rollenbilder integriert.
Bei den Männern, so scheint es, fehlt Vergleichbares. Häufig bleibt nur die Ruine eines alten Männerbilds. An seine Stelle ist wenig Neues getreten. Oft bleibt nur ein Vakuum, wie der Schweizer Männerforscher Walter Hollstein meint.
Der Schweizer Beitrag im internationalen Wettbewerb von Locarno führt dieses Vakuum vor Augen. Im zweiten Spielfilm des 35-jährigen Zürcher Regisseurs Dominik Locher bläst sich der eher zarte David zum «Goliath» (so der Filmtitel) auf. David meint, nur so seine schwangere Freundin beschützen zu können und als Mann und Vater zu genügen.
Sein Krafttraining, gestützt durch Anabolika, wird zur Sucht. Wirkliche Kommunikation mit der Partnerin über ihre und seine eigenen Erwartungen an ihn als Mann gibt es nicht.
Ein bizarres, aufgeblasenes Bild von Männlichkeit wird zum Hindernis auf dem Weg zu einem zufriedenen Leben. Unter Einfluss der Steroide verändert sich die Filmfigur David rapide. Er wird zur Hypothek für die Beziehung – und das gemeinsame Kind.
Toxische Männlichkeit
Was Dominik Locher da zeigt, lässt an das aktuell vieldiskutierte Buch «Boys don’t cry» des jungen englischen Autors Jack Urwin denken. Dieser spricht von «toxischer Männlichkeit».
Danach seien viele Männer unfähig, sich selbst und anderen gegenüber Schwäche einzugestehen. Und wer verunsichert ist, orientiert sich an Bildern traditioneller Ich-Männlichkeit, die die Gesellschaft im Grunde überholt hielt.
Abschied vom Krieger und Ernährer
Ein traditionelles Rollenbild verkörpert auch Mathieu Kassovitz auf der Piazza-Grande-Leinwand. Der Regisseur, Autor und Schauspieler ist selbst Amateurboxer.
Im Grunde ist es das alte Bild vom Krieger und Ernährer, das der Film «Sparring» zeigt. Kassovitz spielt einen Boxer, der schon lange keinen Kampf mehr gewonnen hat. Dennoch will er vor seiner Familie nicht versagen.
Er bewirbt sich als Sparringpartner für einen jungen, aufstrebenden Box-Champion. Dabei lässt er sich bis zur Erniedrigung verdreschen – gegen den ausdrücklichen Wunsch seiner Frau. So verteidigt er hartnäckig die Leistungsfähigkeit des Mannes als höchstes Gut in der Leistungsgesellschaft.
Wenn der Vater eine Frau ist
In der Diskussion um Männerbilder geht es nicht nur um Geschlechterrollen, sondern auch um die Frage, in welcher Gesellschaft wir im Jahre 2017 leben wollen.
Einen Film in Locarno könnte man als Plädoyer für ein realistischeres Männerbild lesen, das den Mann nicht nur auf seine aktiv-produktive Rolle reduziert: In «Lola Pater» spielt die französische Schauspielerin Fanny Ardant eine Transgender-Rolle.
Lola hat vor 20 Jahren ihr Geschlecht angleichen lassen. Nun muss sie ihrem leiblichen Sohn erklären, dass sein Vater eine Frau ist. Fanny Ardant meint dazu im Interview: «Natürlich möchte der junge Mann erst einmal, dass sein Vater ein Mann ist. Doch sobald er akzeptiert, dass es nicht so ist, kann er sehr von seinem aussergewöhnlichen Vater profitieren.»
Offen zu sein für neue Konstellationen, neue Herausforderungen und neue Männerbilder – dafür plädiert der Film. Ein zeitgemässes Statement.
Sendung: SRF1, Filmfestival Locarno 2017: Das TV-Spezial, 9.8.2017, 22:25 Uhr.