Der Abschluss des 70. Filmfestivals von Locarno ist eine Tessiner Angelegenheit: Auf der Piazza Grande wird eine Tessiner Produktion über die grösste Tessiner Rockband gezeigt: Der Dokumentarfilm «Gotthard – One Life, One Soul».
Dass dieser Film auf der Piazza Grande zu sehen ist, passt ausgezeichnet. Denn die Piazza ist auch für die Bandgeschichte von Bedeutung. Hier wagte sich der Drummer Steve Lee erstmals ans Mikrofon, weil der Sänger kurz vorher die Band verlassen hatte.
Posen werden Realität
Gotthard hiessen damals noch «Krak». Vier Jungs, die harten Rock machten. Die so taten, als wären sie nicht in der Tessiner Provinz, sondern irgendwo in den USA: Lange Haare, enge Hosen, Jack Daniels aus der Flasche.
Die Rocker-Posen waren von Anfang an da. Faszinierend ist, dass sie irgendwann zur Realität wurden: Irgendwann waren sie tatsächlich da, die Groupies, die goldenen Schallplatten, die Tourneen um die ganze Welt.
Auf Erfolg gebürstet
Massgeblich dazu beigetragen hat Chris von Rohr. Man überredete denn erfolgreichen «Krokus»-Musiker, sich die Band mal anzuhören. Was von Rohr dann in einem Tessiner Keller traf, begeisterte ihn wenig: Keine Songs, keinen Stil und einen Drummer, der am Groove vorbeispiele habe er dort angetroffen, sagt von Rohr im Film.
In seiner eigenen Erzählung ist es eindeutig: Von Rohr hat eine Truppe von Stümpern auf Erfolg gebürstet. Hat mit ihnen geprobt, Songs geschrieben und sie für Aufnahmen in die USA geholt. Den Schlagzeuger warf er aus der Band und ersetzte ihn mit einem eigenen Mann.
Den Stecker gezogen
Und der Erfolg kam tatsächlich. Chris von Rohr produzierte mehrere Hit-Alben. Dennoch wird im Film kaum ein gutes Haar an ihm gelassen. Die Bandmitglieder werfen ihm vor, Gotthard zwar aufgebaut, aber auch wieder zerstört zu haben.
Gotthard wurde unter von Rohrs Leitung zum Produkt. Zusammen mit Managern und Plattenfirmen war er auf Massentauglichkeit aus. Als Sinnbild für diese Entwicklung steht im Film ein Unplugged-Auftritt am Jazzfestival Montreux, zusammen mit der Opernsängerin Montserrat Caballé.
Leoni gegen von Rohr
Das war nun gar nicht, was der Gitarrist Leo Leoni mit dieser Band vorhatte. Er, der am liebsten vor hohen Boxentürmen steht und harten Rock macht, wurde mit wachsendem Erfolg immer unglücklicher. Geschämt habe er sich für die Musik, die sie mit Chris von Rohr gemacht hätten, sagt Leoni.
Der Dokumentarfilm nimmt diesen Konflikt zwischen von Rohr und Leoni zum Motor der Erzählung. Das funktioniert, allein schon deshalb, weil von Rohr eine Reizfigur ist. Er jagt den ganz grossen Erfolg, Leoni will einfach nur die Gitarre aufdrehen.
Man trennte sich schliesslich vom Produzenten von Rohr und zahlte dafür einen hohen Preis: Die Plattenfirma war weg, man stand vor dem Neuanfang. Schliesslich war die Band aber auch ohne von Rohr erfolgreich, bis schliesslich der Sänger Steve Lee bei einem Unfall in den USA ums Leben kam. Kurz darauf entschied man sich, mit einem neuen Sänger weiterzumachen.
Ein Schweizer Traum vom Rock'n'Roll
Über weite Strecken ist «Gothard – One Live, One Soul» ein recht konventioneller Musik-Dokumentarfilm in dem die Protagonisten aber auffallend offen sprechen und hart miteinander ins Gericht gehen.
Spannend an der Geschichte von Gotthard ist ausserdem, dass es eine Band aus der Provinz tatsächlich schafft, ihren Traum vom Rock'n'roll zu leben. Mit ihren Lederklamotten und Rocker-Posen wirken die Mitglieder von Gotthard schon in den Anfängen zu Beginn der 1990er-Jahre fast so aus der Zeit gefallen wie heute.
Und doch wird dieser Traum real – auch wenn die grossen Bühnen im Film nicht in Los Angeles sind, sondern in Zofingen, Schaffhausen und Hinwil.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 9.8.2017, 12.10 Uhr.