Mary Kay Place ist eine jener Schauspielerinnen, die wir alle sofort wieder erkennen, ohne sie eindeutig einer Rolle zuordnen zu können. In unzähligen Serien und gegen hundert Spielfilmen hat sie prägnante, sogenannte Charakterrollen gespielt.
Nun spielt Mary Kay Place die Hauptfigur in «Diane», dem Film des einstigen Filmkritikers, Dokumentarfilmers und Direktor des New York Film Festivals, Kent Jones.
Aufopferung bis zur Verzweiflung
Diane ist eine jener Frauen, die den grundanständigen Kern der US-amerikanischen Gesellschaft verkörpern. Eine Mittelstandsfrau in Massachusetts, die sich um alle anderen mehr kümmert als um sich selber.
Sie besucht Bekannte im Spital, bringt einer Nachbarin Essen vorbei, arbeitet in der Suppenküche für Bedürftige und kümmert sich immer wieder um ihren erwachsenen, drogensüchtigen Sohn – bis zur Verzweiflung.
Diane lebt allein. Man geht davon aus, dass sie verwitwet ist. Später erfahren wir aber auch von einer Affäre mit dem Freund der besten Freundin in den 90er-Jahren, von Schuldgefühlen und Lebenslust, von Freundschaften und Verbitterungen, die schon Jahrzehnte andauern.
«Diane» ist ein ungemein kunstvoll gebauter, auf den ersten Blick einfach und direkt erzählender Film, der Schicht für Schicht vom Leben seiner Protagonistin erahnen lässt, ohne sie abzutragen.
Trügerische Beiläufigkeit
Zuerst sind wir beeindruckt von der Unermüdlichkeit nicht nur der Hauptfigur, sondern auch ihrer Freundinnen. Wie diese Frauen die eigenen Lebenswidrigkeiten und jene der anderen wegstecken, überarbeiten, umpflügen und mit zupackender Selbstverständlichkeit auffangen, wird so täuschend beiläufig erzählt, dass einen die Ehrfurcht packt.
Auch in Sachen Kamera-Arbeit und Schnitt tut der Film so, als hätte sich das alles einfach so ergeben.
Diane sucht nach Vergebung
Dazu kommt bissiger Humor: hochpräzise, giftig-gutmütige Verbalpfeile. Ein Austausch am Spitalbett eskaliert, wie er offenbar schon seit vielen Jahren immer wieder eskaliert. Solche Momente erlebt man einmal mit und weiss sofort, dass sie eingespielt sind – erprobt, nicht abzustreifen.
Im Verlauf des Films wird Diane einsamer und verlorener. Ihre echte oder vermeintliche Schuld drängt sich vor. Sie muss Vergebung für sich selber finden.
Befreiende Grobheit
Auf dem Weg dahin inszeniert Kent Jones ein paar Kabinett-Stücke, Ensembleszenen, die sich gewaschen haben. Einen Besuchsabend in der grossen Küche eines Hauses etwa: Rund zehn der älteren Freundinnen und Freunde tauschen Erinnerungen, Informationen und Bissigkeiten aus, während die jüngere Generation sich immer wieder an den Tisch drängt, um sich ein Cookie zu schnappen.
Oder die Einladung Dianes zu ihrem frisch drogenentwöhnten Sohn Brian, seiner bigotten Frau und einer Freundin, die alles daransetzen, sie zu ihrer Errettungskirche zu bekehren – bis Diane grob ausfällig wird auf eine Art, die auf uns im Publikum unendlich viel befreiender wirkt als auf sie.
Heimlich grossartig
Kent Jones ist ein stiller, unspektakulärer, heimlich grossartiger und eindringlicher Film gelungen. «Diane» handelt vom Herzen der amerikanischen Gesellschaft, von jener Kombination aus schlechtem Gewissen und Solidarität, Gemeinschaftssinn und Verzweiflung.
Menschen wie Diane sind solidarisch, ohne auf politische Überzeugung oder den eigenen Vorteil zu achten. Sie sind es, die bis heute jenen anderen, echteren und zuweilen schmerzhaft puritanischen amerikanischen Traum am Leben halten.