Scarlett Johansson ist hinreissend in der Rolle, die einst für Angelina Jolie konzipiert wurde. Als junge Frau, deren Intelligenz und Fähigkeiten explodieren, bringt sie eine Spur Identifikationspotential in die Rolle ein. Gerade so viel, um Bessons hirnrissige Achterbahn vom Universum der Marvel-Superhelden abzugrenzen.
Am Anfang der Drehbuchidee stand die (wissenschaftlich nicht haltbare) These, der Mensch nutze nur einen kleinen Prozentsatz seiner Hirnkapazität – und die hypothetische Frage, was denn möglich wäre, wenn die theoretische Kapazitätsgrenze erreicht würde.
Schneller als das Denken
Er habe mehr als zehn Jahre gebraucht, nur schon für den ersten Entwurf des Drehbuches, behauptet Besson im Interview lachend: Seine Intelligenz habe offensichtlich nicht ausgereicht.
Also hat der geniale französische Clip-Springer sein grösstes Talent in die Waagschale geworfen: seine Fähigkeit, packende Bilder und Sequenzen zu konzipieren, welche dem Denken zuvorkommen.
Wenn Scarlett Johansson nach den anfänglichen Misshandlungen in einer Zelle in Taipeh plötzlich ihre neuen Fähigkeiten entdeckt und ungerührt aus allen Rohren schiessend Männerleichenhaufen liegen lässt, dann ist das ein typischer Besson-Moment: mehr Trailer-Kick als Handlungsmotor, aber emotional wohl vorbereitet als orgastische Entladung vorher aufgestauter Aggression.
Böse Frauen: Bessons Muster
Schöne Frauen mit Kanonen gehören zu Luc Bessons ewig adoleszentem Universum. In seinem ersten Grosserfolg «Subway» von 1985 zog Isabelle Adjani den Revolver aus der Handtasche, in «Nikita» von 1990 wurde Anne Parillaud zur unwiderstehlichen Profimörderin ausgebildet. Vier Jahre später brachte Berufskiller «Léon» (Jean Reno) in New York der gerade mal dreizehn Jahre alten Nathalie Portman das tödliche Handwerk bei.
Aber «Lucy» ist näher bei Bessons durchgedrehtem Comic-Opus-magnum «The Fifth Element» von 1996 als bei den früheren, in gut skizzierten sozialen Milieus angesiedelten Filmen.
Der Pakt mit dem Zuschauer
Da kann Morgan Freeman mit parodistischem Gusto seinen theoretisierenden Professor spielen so viel er mag: Seine Erklärungen dafür, was in Lucys Körper abläuft, sind etwa so plausibel wie jene von Hollywoods 50er-Jahre Professoren für das nuklear getriebene Wachstum von Riesenspinnen oder Lagunen-Mutanten.
Und sie sind genau so essenziel für den Film. Denn sie liefern nicht etwa das Plausibilitätsgerüst der Geschichte, wie man vermuten könnte, sondern die Schienen für den temporären «suspension of disbelief», den freiwilligen vorübergehenden Verzicht auf Unglauben.
Im Kino ist das ein wertvolles dramaturgisches Element, es ist der eigentliche Vertrag zwischen dem Erzähler und seinem Publikum, und die Betonung liegt auf temporär – für beide Seiten.
Kasperlitheater für Ungläubige
Nähmen wir nämlich die Theorie der brachliegenden Hirnentwicklungs-Kapazität im Alltag ernst, wären wir bei L. Ron Hubbard und seiner Scientology-Sekte. Und nähmen wir Bessons orgiastischen Bildertaumel über die Länge seiner 90 Leinwandminuten hinaus ernst, wären wir bei Terrence Malick und den prätentiösen Weltsummierungen seines «Tree of Life».
Aber das Schöne an «Lucy» (und wohl auch an Besson mittlerweile doch etwas reiferem Alter von 55 Jahren) ist die Verspieltheit. Besson macht Kasperlitheater für Kino-Nostalgiker.
Lucy mag in ihrer rasenden Entwicklung zu einem gottähnlichen Wesen werden, zu einer weltumfassenden Entität gar. Aber das hindert Besson nicht daran, uns und sich immer wieder daran zu erinnern, dass er hier mit Figuren aus dem Koffer spielt, mit emotionalen Chiffren.
Wild montiert
Wenn die durchaus misstrauische Lucy zu Beginn des Films überredet werden soll, die Übergabe eines Drogenkoffers zu übernehmen, schneidet Besson den kurzen Clip einer Maus dazwischen, die sich einer Mausefalle nähert. Und wenn dann die Falle zuschnappt, dann reisst ein Gepard eine Gazelle.
Das ist näher bei den Cartoons von Tex Avery oder dem Bild der Männer mit der Säge über dem Kopf einer schnarchenden Comic-Figur, als bei der Pseudo-Wissenschaftlichkeit, welche der dozierende Morgan Freeman in den Film einbringt. Und damit eben ein klares Signal dafür, dass das Kasperli-Theater angefangen hat und dass wir uns dem jetzt bitte ergeben sollen für die ausgemachte Dauer.
Bewusste Ressentiments gegen Intellektuelle
«Lucy» ist nicht nur ein hirnrissiges Clip-Spektakel von beeindruckender Tischbomben-Wucht, sondern auch eine Parodie auf intellektuell-philosophische Kino-Demiurgen (Weltenbauer) wie Terrence Malick oder Stanley Kubrick.
Und damit natürlich auch eine Ausgeburt von Luc Bessons anti-intellektuellen Ressentiments. Dass er sich dessen mittlerweile durchaus bewusst ist, zeigt die Action-Sequenz, in der ausgerechnet jenes Pariser Universitätsquartier zerlegt wird, in dem er zuvor die Wissenschaftler getroffen hat, die ihm beim theoretischen Unterbau für das «Lucy»-Drehbuch geholfen haben.