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Carlo Chatrian steht auf der Piazza Grande, im Hintergrund stehen die bunten Häuser von Locarnos Altstadt.
Legende: «Ich habe die Ziele erreicht, die ich mir gesetzt habe» – Carlo Chatrian auf der Piazza Grande. Keystone

Filmfestival Locarno Carlo Chatrian – der neue Mann in Locarno

Als im letzten Jahr der schillernde Olivier Père das Filmfestival Locarno verliess, wartete man mit Spannung auf die neue künstlerische Leitung. Dann wurde der «Neue» präsentiert – und alle rieben sich erstaunt die Augen: Von Carlo Chatrian hatte man bisher kaum etwas gehört.

Wenig war bekannt über Carlo Chatrian, als dieser im letzten Jahr als Nachfolger Olivier Pères nominiert wurde. Für das grösste Schweizer Filmfestival hatten sich manche einen schillernden Namen gewünscht, eine Persönlichkeit, die den Weg Olivier Pères weiter gehen würde.

Père hatte nicht nur mit seiner etwas extravaganten Art für neuen Glanz in Locarno gesorgt. Seine Auswahl der Filme – Publikumsrenner neben provokativen Experimenten – hatte dem Festival ebenso neue Energie eingehaucht wie auch sein Vermögen, wieder viele Stars ins Tessin zu holen. Man wünschte sich daher einen in der Filmszene bekannten Namen, der das Festival im gleichen Stil weiterführen möge wie Père.

Nun ist der neue Mann da – und bis jetzt kennt man ihn kaum. Vorschusslorbeeren gab es wenig, die Branche ist skeptisch und wartet ab. Das Programm lässt hoffen: Es verspricht schon auf dem Papier gute Kinomomente, Altstars wie Christopher Lee oder Faye Dunaway werden auf dem roten Teppich erwartet. Wer aber ist der neue Unbekannte, der dem grössten Schweizer Festival weiterhin zum Glanz verhelfen soll?

In einem italienischen Lokal in Zürich sitzt ein freundlicher Mann, der neben italienisch auch fliessend französisch spricht. Er trägt eine Brille, hat krauses Haar und Bart und stellt sich erst einmal vor. «Schatrioo» – so spreche man seinen Namen aus, sagt er.

Carlo Chatrian, Ihren Nachnamen spricht man französisch aus, Sie sind aber Italiener. Woher stammen Sie?

Mein Familienname stammt aus dem Aostatal. (Ein ursprünglich französischsprachiges Hochtal in Italien mit autonomem Status, Anm. d. Red.) Das ist auf der anderen Alpenseite gegenüber vom Kanton Wallis. Ich bin zwar in Turin geboren, aber ich habe meine ganze Kindheit und Jugend in dieser alpinen Umgebung verbracht. Wahrscheinlich ist es da nicht anders als in den Schweizer Berggegenden, vermutlich auch nicht viel anders als im Tessin. Es sind ländliche Gegenden mit guter Lebensqualität. Wer aber kulturelle Zentren sucht, muss sich weg bewegen.

Sie sind in einem Alpental gross geworden. Was hat Sie denn zum Kino gebracht?

SRF am Filmfestival Locarno

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Im Radio:

SRF 2 Kultur und SRF 4 News sind während des Filmfestivals gemeinsam vor Ort: «Live aus Locarno» mit aktuellen Filmen und prominenten Gästen – vom 3. bis 11. August, Mo-Fr, um 11 Uhr live auf SRF 4 News und 12 Uhr auf SRF 2 Kultur.

Im TV:

«Filmfestival Locarno 2017 - Das Spezial» am 9. August um 22.25 Uhr auf SRF 1.

Das ist schwierig zu sagen. Während der Schulzeit war es eher die Literatur, die mich fasziniert hat. Sie gefällt mir übrigens immer noch. Wenn ich von Lebensträumen sprechen sollte, so war es wohl eher immer das Schreiben als das Arbeiten mit Film und Kino.

Im Gymnasium wurde der Film – und vor allem auch der Kinobesuch – fester Bestandteil meines Lebens. Es gab sogar einen Kinoclub, der etwas andere Filme zeigte als im regulären Kino. Das wurde zum festen Programmpunkt in meinem Leben, auch der Austausch darüber mit meinen Freunden. An der Universität ging dieses Abenteuer weiter, und es führte mich schliesslich nach bis Locarno.

Gibt es ein Filmgenre, das Ihnen besonders gut gefällt?

Nein, ich bin sehr offen für alle möglichen Genres. Und ich hoffe, man kann diese Offenheit auch im Programm von Locarno sehen. Aber es gibt schon Filmemacher, die mich etwas mehr ansprechen als andere, es gibt auch solche, die ich besser kenne als andere.

Von meinen Studien her habe ich sicher eine Affinität zum sogenannten «cinéma du réel». Man könnte es auch Dokumentarfilm nennen, aber nur bedingt. Weil auch eine Dokumentation nicht immer nur reelle Bilder zeigt: das sind erst einmal Eindrücke und keine Informationen. Für mich kommt der Begriff «Dokumentarfilm» vom «Dokument», das Informationen bereitstellt. Ich ziehe also den Begriff «cinéma du réel» vor: Ein Kino, das im Realen anfängt und mit den eingefangenen Eindrücken etwas konstruiert. Das ist ein Kino, über das ich in meiner Karriere schon viel gearbeitet habe. Im Kino der letzten 20 Jahre ist das «cinéma du réel» sicher dasjenige Genre, in dem sich am meisten getan hat. Und es hat auch dem Kino der Fiktion neue Erzählweisen gebracht.

Sie leiten nun dieses grosse Filmfestival von Locarno, ein sogenanntes A-Festival. Hat sich in Ihrem Leben seither viel verändert? Sind Sie umgezogen?

Die meiste Zeit des Jahres lebe ich immer noch in meinem Haus in einem kleinen Dorf in der Nähe von Aosta. Während der drei Sommermonate lebe ich in Locarno. Die meiste Zeit aber verbringe ich auf Reisen, zwischen Flugzeugen, Festivals, Filmmärkten. Das mache ich, um Leute zu treffen, die Filme nach Locarno bringen könnten. Aber auch, um diese Welt besser kennen zu lernen.

Sie haben Familie und Kinder?

Ja, ich habe eine Frau und drei Kinder.

Und was sagen die zur neuen Arbeit des Vaters?

Meine Kinder machen viele Witze. Sie nennen mich scherzhaft «direttorone». Das bedeutet «der grosse Direktor». Das mag ich, diese lustige Seite. Manchmal aber leiden wir alle, dass wir uns nun seltener sehen. Das ist aber Teil des Lebens: Viele Leute reisen viel und müssen das mit der Familie unter einen Hut bringen.

Ich betrachte mich aber als glücklichen Menschen, ich habe Glück gehabt. Ich habe einen sehr schönen Beruf, ich habe mit den Träumen der Menschen zu tun, ich kann diese Träume einem Publikum vorführen. Das ist eine schöne Sache. Und ausserdem denke ich oft, wenn ich Filme schaue, an meine Familie: Funktioniert dieser Film bei meiner Familie, würde er meinen Kindern, meiner Frau oder meinen Freunden gefallen?

Das Publikum von Locarno kenne ich zum Glück schon ein bisschen. Ich arbeite dort schon über zehn Jahre für das Festival. Trotzdem muss ich immer Gesichter vor mir sehen, für die ich die Filme aussuche.

Kommt die Familie auch ans Filmfestival?

Das hoffe ich doch. Sie kommen, um zu sehen, was der Vater für einen Schaden anrichtet…

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Was hat Ihnen bei der Vorbereitung Ihrer ersten Ausgabe am meisten Freude bereitet?

Es gibt verschiedene Freuden. Die grösste ist, am Ende das Resultat der Arbeit und Vorbereitung zu sehen. Das ganze Jahr über habe ich mich gefragt: Wie kommt das raus, was sind die Früchte dieser Arbeit? Nun haben wir das Programm präsentiert. Es liegt zwar an euch Journalisten, das nun zu beurteilen. Ich aber bin sehr zufrieden, ich habe die Ziele erreicht, die ich mir gesetzt habe.

Das Programm repräsentiert auf der einen Seite den ganzen Reichtum dieser Kunst, die man die zwar eine sterbende Kunst nennt, die aber – wie eine mythologische Kreatur – jede Saison neuen Atem eingehaucht bekommt.

Es repräsentiert auf der anderen Seite auch die Welt, in der wir leben. Wir sprechen immer von einer globalisierten Welt. Das ist schon wahr, es ist einfach von einem zum anderen Ende zu reisen, überall die gleichen Geschäfte zu finden, sogar die gleichen Gesichter zu sehen. Und trotzdem hält jeder Winkel der Welt ganz einzigartige Erzählungen bereit. Und die kann das Kino erzählen.

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