Choi Hyeon (Park Hae-Il) ist Koreaner, hat eine Chinesin geheiratet und ist in Peking Professor für nordostasiatische Studien. Zum Begräbnis eines überraschend verstorbenen alten Freundes ist er für ein paar Tage nach Südkorea zurückgekommen. Er sagt wenig, bleibt stets überaus liebenswürdig und sieht gut aus. Das findet jedenfalls die junge Frau vom Tourismusbüro, die ganz zappelig wird in seiner Gegenwart.
Erotische Spannungen
Es ist schwer zu sagen, was diesem Film seinen heiteren Zauber verleiht. Vielleicht sind es die vielen bloss angedeuteten erotischen und politischen Spannungen, all die Momente, die wie Expositionen für andere Geschichten wirken.
Da ist zum Beispiel der von einem eher taktlosen Universitätskollegen angedeutete Verdacht, der Tod des alten Freundes könnte von dessen junger Witwe verursacht worden sein. Da ist Gong Yoon-hee (gespielt von Min-a Shin), die sehr schöne, sehr freundliche und sehr zurückhaltende Frau, welche das Teehaus in der historischen Stadt Gyeongiu übernommen hat – das Teehaus, in welches Choi zurückkehrt, wegen seiner Erinnerung an ein erotisches Wandgemälde, das er dort sieben Jahre früher gesehen hatte. Die neue Inhaberin hat es mit neuen Tapeten überdeckt, aber sie wird selber zu einem keuschen erotischen Traum, zumindest für das Publikum in Kino. Auf Choi wirkt sie so anziehend wie er auf sie. Und sie ist Witwe.
Kein spannungsfreier Moment
Eine weitere Frau spielt eine Rolle: Yeo-Jung, gespielt von Jin-seo Yoon. Vor ebenfalls sieben Jahren haben sie und Choi eine betrunkene Nacht miteinander verbracht, bei der jetzigen Begegnung ist sie sehr abweisend – unter anderem, weil sie später ein Kind abgetrieben hat, von dem Choi nie etwas wusste. Und stets präsent als fremde Unbekannte im Hintergrund ist Chois chinesische Ehefrau, die nicht mitgekommen ist, von der aber alle Koreanerinnen vermuten, dass sie als typische Chinesin sehr hart und streng und kalt sein müsse.
145 ruhig fliessende Minuten ohne einen einzigen spannungsfreien Moment. Ein Mann, zwei Witwen, zwei Ehefrauen und zwei Länder: Südkorea als Sehnsuchtsort zwischen China und der bedrohlichen Diktatur des Nordens. «Gyeongiu» ist ein Film, der sein Publikum in eine breite Palette von Vorstellungen und Ideen einführt, ohne den geringsten didaktischen Impuls, mit einer Beiläufigkeit, die Bewunderung weckt.
Eintauchen in den nordasiatischen Kosmos
Von der kleinen Teezeremonie bis zur besoffenen Karaoke-Nacht, über das verbotene Besteigen sanfter, busenartiger Grabhügel, bis zum eifersüchtigen Polizisten und der Anziehung von Chois Ohrmuscheln auf die schöne Teehaus-Betreiberin schwebt da ein feines Gewebe von Gegenwart, Vergangenheit, Geistern, Träumen und Fragen.
Man erfährt in den nicht ganz zweieinhalb Stunden überraschend viel über den nordasiatischen Kosmos und man lässt sich gerne treiben mit Choi durch die Tage und Nächte, die Geschichte und die Gegenwart von Menschen, nicht von Ländern. Und ein wenig steht dieser Film Rücken an Rücken mit «Alive», dem verzweifelt hoffnungslosen, aber ähnlich starken zweiten Koreaner im diesjährigen Wettbewerb. Wo «Alive» von Jungbum Park trotz Gegenwärtigkeit daherkommt wie ein Traktat zwischen Gotthelf und Marx, schwebt «Gyeongiu» mit abgeklärter Heiterkeit und bloss einer Spur von Trauer voll in der Gegenwart.