Dokumentarfilme im Wettbewerb sind mittlerweile auch in Locarno eine Selbstverständlichkeit. Aber reflektierende Filme über Krankheit haben in der Regel nicht nur eine hohe Schwellenangst zu überwinden, sie machen es einem auch häufig sehr leicht, sich auszuklinken. Das ist auch bei Joaquim Pintos Dokumentarfilm über sein Jahr mit experimenteller Chemotherapie gegen Aids und Hepatitis C immer mal wieder so.
Sobald der Kranke eine Reihe von Medikamenten und ihre Nebenwirkungen aufzählt, ist der Zuschauerreflex Abwehr. Vielleicht ist die erste Einstellung des Films ja auch als Warnung zu verstehen – Da kriecht eine braune Nacktschnecke minutenlang durchs Bild, glitzernd im Sonnenlicht, aber langsam. Nach dem ersten Schnitt folgt dann aber eine Roadmovie-Sequenz mit entsprechender Musik und irgendwann erfahren wir, dass Pintos Ehepartner, ein bärtiger Aussteiger, der unermüdlich Bäume pflanzt, früher Frontman einer Heavy Metal Band war.
International vernetzt
Pinto ist nicht nur Filmemacher und Produzent, er hat, als er noch gesund genug war, auch als Tonmeister für viele andere Filmemacher gearbeitet und ist über die halbe Welt vernetzt. Unter den verstorbenen Freunden, die er aufzählt, sind viele wichtige Exponenten des schwulen Films und zu seinen Erinnerungen an die Studienzeit in der DDR gehört auch die Begegnung mit einer jungen Aktivistin namens Angela Merkel.
Pinto und sein Partner pflanzen nicht nur Bäume und bekämpfen verzweifelt das Feuer, das ihre Pflanzungen bedroht. Sie leben auch mit drei Hunden, welche nicht nur reguläre Familienmitglieder sind, sondern ganz offensichtlich die emotionellen Kinder des Paares.
Private und gesellschaftliche Befindlichkeiten
Die 162 Minuten des Films ziehen sich manchmal ziemlich. Die Gedanken zu Therapien und Medikamenten, Wirkungen und Nebenwirkungen können wohl nicht anders als repetitiv daherkommen, das liegt in ihrer Natur und Gegebenheit. Dass sie allerdings das Gerüst bilden für weitergehende Überlegungen zur europäischen Austeritätspolitik, Sparmassnahmen im spanischen Gesundheitswesen und verschiedenen sozioökonomischen Theorien, tut dem Film nicht nur gut. Die Verquickung privater Befindlichkeit und gesellschaftlicher Verelendung fährt subjektiv in die Knochen, ist aber objektiv nur sehr bedingt haltbar. Und so, wie man bald einmal findet, es reiche jetzt mit den Hunden, ist auch der Gedanke an Verdichtungsmöglichkeiten für das Material immer schnell zur Hand.
Als äusserst persönliches Dokument hat dieser Film – der Titel wird übrigens mit «Und nun? Erinnere mich» übersetzt – seine Stärken. Als Kunst-Stück trumpft er immer wieder mit starken Bildern auf, sei es der flatternde Flügel eines tot und flachgefahrenen Vogels auf der Strasse, oder die Rauchsäulen der Wald- und Wiesebrände, aber gleichzeitig bleibt das amorph, schleichend, wie die Schnecke in der ersten Einstellung.