Der Japaner Shinji Aoyama ist längst eine feste Grösse an europäischen Festivals. Mit «Eureka» machte er sich 2000 in Cannes einen internationalen Namen und seither taucht er immer wieder auf.
In Locarno war er zuletzt 2011 im Wettbwerb mit der wunderbaren Fotografengeschichte «Tokyo koen». Das war eine Romanverfilmung, der man das nicht ansah und der neue Film geht nun ebenfalls auf einen Roman zurück, der Autor heisst Shin’ya Tanaka.
Perfekt fürs Kino adaptiert
Für seinen Roman Tomogui hat er 2011 den japanischen Akutagawa-Literaturpreis gewonnen. Und wieder wirkt Aoyamas Film trotz Buchvorlage wie ein nach Originalskript gedrehtes Kinowerk.
Die Hauptfigur Toma erzählt ihre eigene Geschichte. Die setzt 1988 ein, als er 17 Jahre alt war. Das Jahr, in dem sein Vater starb, wie er ganz am Anfang bemerkt. Sein Vater, der ein Sadist war, der beim Sex die Frauen schlug, auch Tomas Mutter, die ihn und den Sohn darum verlassen hat.
Schmerzhafter Sex
An seinem 17 Geburtstag hat Toma in einem Hinterraum der Tempelanlage des Dorfes Sex mit seiner Freundin. Es ist eine mechanische Angelegenheit, auch wenn die beiden es nicht zum ersten Mal probieren. Das Mädchen hat noch immer Schmerzen dabei – obwohl sie es nun zum dreizehnten Mal getan haben.
Tomas Mutter ist die Fischhändlerin am Hafen. Am linken Arm trägt sie eine Prothese, den Unterarm hat sie im zweiten Weltkrieg verloren. Und das ist auch der Grund dafür, dass sie sich mit Tomas Vater eingelassen hat: Ein Frau mit fehlendem Arm hatte nicht viel Auswahl.
Die Kaltschnäuzigkeit mit der das alles von Toma erzählt wird, erschreckt einen zu Beginn des Filmes. Und es dauert auch nicht lange, bis klar wird, was den Jungen quält: Er hasst seinen Vater für die Gewalt, die er auch seiner aktuellen Freundin antut. Er hält diese für ein Dummchen, weil sie es sich gefallen lässt. Und er hat Angst, dass er die Neigung des Vaters geerbt haben könnte.
Erziehung und Warnung
Dafür spricht auch die Ambivalenz der Mutter ihrem Sohn gegenüber. Sie sorgt sich zwar um ihn und freut sich, wenn er kommt. Aber sie lässt ihn nicht vergessen, dass er der Sohn von «diesem Mann» ist. Und er vergisst es auch nicht. Er ist sogar überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis er seine Freundin schlagen wird. Und darum ist es auch nur eine Frage der Zeit.
«Tomogui» ist ein Film über Prädestination via Erziehung und Warnung. Und so, wie Toma das schlimmste fürchtet, weil unter anderem seine Mutter ihre Furcht davor nie verhehlt, geizt auch der Film nicht mit Zeichen und Signalen für das, was kommen könnte.
Das ist meisterhaft lakonisch in Szene gesetzt, mit einem trockenen Humor und ohne Scheu vor grober Metaphorik. Wenn Toma voll sexueller Anspannung im Badezimmer onaniert und seinen Erguss dann mit einem Schwall Wasser wegspült, erfolgt der nächste Schnitt auf den Kanalisationsausfluss, wo das Abwasser in den brackigen Fluss läuft. Von dem Fluss wurde eine Viertelstunde zuvor gesagt, er sei eine grosse Vagina. Und nun sagt Toma, er wasche seinen Samen täglich in den Fluss.
Gute Laune trotz Tragik
Aus dem gleichen Fluss angelt er auch den Aal, den seine Mutter dann zubereitet und ihm fertig gekocht mit nach Hause gibt. Mit dem Hinweis, er solle nicht davon essen, und die schwangere Freundin des Vaters ebenfalls nicht.
So legt der Film Fährten und Hinweise aus, die meist in eine andere Richtung verlaufen, als man zunächst denken würde, bis sich die Handlung im dürrenmattschen Sinne zuspitzt. Und schliesslich in einen Schluss mündet, der mit seiner frechen Ironie und überraschenden Wendung gute Laune macht, ohne die vorangehende Tragik zu verharmlosen.
«Tomogui» ist reifes, selbstsicheres Kino, ein Film, der mit Sex und Gewalt ganz selbstverständlich umgeht, ohne viel davon zeigen zu müssen, und ohne etwas verstecken zu wollen. Sehr befriedigend.