Die Schweizer Filmlandschaft ist praktisch zweigeteilt: Entweder laufen Filme an Festivals oder sie laufen im Kino. Im Jahr 2011 waren über 2000 neue Filme auf Schweizer Leinwänden zu sehen. Rund ein Viertel dieser Filme lief ausschliesslich an Festivals, der grosse Rest nur in den Kinos. Die Schnittmenge – jene Filme, die sowohl an Festivals als auch in den Kinosälen zu sehen waren – ist gering: knapp 150 Filme.
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Dies ist eines der Haupterkenntnisse einer Studie des Bundesamts für Statistik, die erstmals die Daten der Filmfestivals erhoben hat. Die Ergebnisse wurden am Donnerstag in Locarno präsentiert. Ausgewertet wurde das Angebot der 14 grossen Festivals, die der Conférence des Festivals angehören, in deren Auftrag die Studie entstand.
«Die Resultate sind überhaupt keine Überraschung», kommentierte Ivo Kummer, oberster Filmförderer des Landes. Auch die statistischen Belege, dass an Filmfestivals viele Dok- und Kurzfilme, mehr Filme aus Afrika und Asien oder mehr Erstaufführungen gezeigt werden, erstaunen Kinointeressierte nicht.
Filmfestivals retten die Kinokultur
Immerhin: Die Studie belegt erstmals in Zahlen, dass Filmfestivals einen Beitrag leisten zur Vielfalt der Filme, die in der Schweiz gezeigt werden. «Die Verleiher gehen weniger Risiken ein, umso wichtiger wird das alternative Angebot der Festivals», erklärte Edouard Waintrop von der Sektion «Quinzaine des réalisateurs» des Filmfestivals Cannes. Und: Manche Filme kommen nur dank einer Festivalpräsenz überhaupt ins Gespräch – und finden so manchmal doch noch in die Kinosäle.
Filmfestivals sind nicht nur für einzelne Filme eine Chance. Für Seraina Rohrer, Direktorin der Solothurner Filmtage, retten sie die alte Kinokultur. Denn früher sei ein Kinobesuch ein soziales Ereignis gewesen.
Auch das Filmfestival Locarno ist ein grosser Sommerevent. Hier lockt die Atmosphäre, die Piazza, das Tessin – die Filme werden dabei gerne auch mal zur Nebensache. Trotzdem sei es ein Kinoerlebnis, dass kein Multiplex bieten könne, sagt SRF-Filmredaktor Michael Sennhauser. «Und die Säle sind voll – selbst bei Filmen, die es nie ins Kino schaffen werden. Hier schauen sich die Leute Filme an, die sie zuhause nie gucken würden.»
Kinos übernehmen Festival-Strategien
Von solchen Besuchern kann die kriselnde Kinobranche nur träumen. Es bietet sich deshalb an, von den Festivals zu lernen: «Kinos übernehmen immer mehr Festival-Strategien», sagt Michael Sennhauser. «Sei es mit Filmreihen, Diskussionen oder Gästen: Besonders im Arthouse-Bereich ist diese Angleichung an Festivals zu beobachten.»
Kein Wunder, denn Filmfestivals boomen: Besucherzahlen sind über die Jahre stetig gewachsen. Neue Festivals kamen hinzu, bestehende Festivals haben ihr Angebot mit immer mehr Zusatzveranstaltungen und Preisen ausgebaut. Aber auch die Festivallandschaft hat Grenzen.
Spezialisierung statt Expansion
In der Schweiz bestehe die Gefahr, dass der Festivalmarkt übersättiget werde, meint Ivo Kummer. «Einzelne Festivals haben den Zenit wohl erreicht.» Gerade ein Festival wie Locarno könne auch gar nicht mehr wachsen.
Statt weitere Expansionen wünscht sich Ivo Kummer, dass sich die Festivals inhaltlich vertiefen. Oder spezialisieren, wie SRF-Filmexperte Michael Sennhauser beobachtet: «Die Festivals, die noch grossen Zulauf haben, sind spezialisiert.» Er nennt das Nifff, Fantoche oder die Kurzfilmtage als Beispiele.
Hier, unter Cinéphilen mit ähnlichen Interessen, vermag das Festival zum einmaligen Erlebnis zu werden. «Filmschauen wird zu einem Gruppenerlebnis», sagt Sennhauser. «Wie beim Sport, nur ohne Schlägereien.»