«Feuchtgebiete» – der Film, beginnt mit einer Publikumsverarschung. Ganz wörtlich, ganz clever, ganz hübsch. Das ist vor allem darum erfreulich, weil man sich bloss zwanzig Sekunden davor über einen eingeblendeten bigotten Kommentar zum Buch von Charlotte Roche und der Überflüssigkeit seiner Verfilmung amüsiert hat. Der Film stellt damit gleich einmal klar, dass er nicht vorhat, uns einfach zu bedienen.
Sicher nicht brav, aber auch nicht zu schockierend
Natürlich tut er dann über weite Strecken trotzdem genau das. Aber das war nicht nur zu erwarten, das war auch fast zwingend notwendig. Wo Charlotte Roche beim Schreiben Tabus brechen und Grenzen überschreiten wollte, hat der Film, als Produktion für das grosse potentielle Publikum, welches die Debatte um den Roman erschlossen hat, die weitaus komplexere Auflage, nie zu weit zu gehen, und nicht allzu zurückhaltend zu wirken. Ein Job den Regisseur David Wnendt und sein Team mit Bravour bewältigen.
Sie sind alle da, die Ekelszenen, von der verdreckten öffentlichen Toilette, welche die Heldin genüsslich mit ihren privaten Teilen poliert, über die Popel, die schleimigen Finger und die blutigen Tampons bis zur temporären analen Inkontinenz, vor der sich Helen anlässlich der Operation ihrer erweiterten Analfissuren fürchtet.
Darüber hinaus aber baut der Film die Backstory aus. Während Roches Buch im Spital bleibt und über die Erzählerin in ihre Vergangenheit zurückblendet, setzt der Film mit der Vorgeschichte ein und weitet die zahlreichen Rückblenden zu einer komplex-disparaten Familiengeschichte aus.
«Trainspotting» als stilistisches Vorbild
Sendungen zum Thema
Wnendt bedient sich dazu der stilistischen Collage-Technik, welche Danny Boyle mit Trainspotting 1996 populär gemacht hat: Zeitraffer, Freeze-Frames (Standbilder), subjektive Kamera in Bewegung. Auf Trainspotting verweist auch die frühe Szene in der öffentlichen Toilette, «Scotlands worst public toilet» ist das Vorbild dafür. Und überhaupt ist die mittlerweile zu Mainstream-Design verschliffene Punk-Ästhetik ein dauernder Impulsgeber, auch auf dem Soundtrack. Die Songs, vor allem jene mit englischen Texten, und da insbesondere derjenige unter dem Abspann, gehen denn auch verbal noch einmal über das hinaus, was der Film im Bild gnadenvollerweise oft doch nur andeutet.
Eine geglückte Literaturverfilmung
Und doch wird niemand behaupten wollen, diese Kinofassung von «Feuchtgebiete» sei eine unzulässig gesoftete Variation auf den Text. Als Literaturverfilmung im klassischen Sinne erfüllt sie alle relevanten Kriterien: Der Film bleibt dem Geist des Buches treu, er hält sich an die wesentlichen erzählerischen Elemente, er unterschlägt keine signifikanten Punkte und er schafft es, einen ähnlichen Gemüts- und Geisteszustand zu erzeugen, wie es das Buch tut.
Darüber hinaus aber bewährt sich der Film als Medium hier für einmal mit einer Erlebnisdimension, welche dem Buch weitgehend abgeht (wenn man die öffentlich Debatte dazu nicht als integralen Teil der Lektüre begreifen will): Er setzt mich als Zuschauer unter Zuschauer – und damit meine und ihre Reaktionen in Relation. Wo ich mich beim Lesen allenfalls peinlich berührt gekrümmt haben mag – und das kam bei der nicht immer vergnüglichen Lektüre aus verschiedenen Gründen vor – finde ich mich als Kinozuschauer in der schizophrenen Situation, dass ich gewisse Dinge vorgeführt bekomme, die ich eigentlich nicht sehen möchte.
Etwa die Szene, in der sich Helen ihre Wunde wieder aufreisst, um im Spital bleiben zu können. Der Film seinerseits muss in der Darstellung gerade so weit gehen, dass der Impuls zum Wegsehen beim wesentlichen Teil des Publikums ausgelöst wird, und dann doch wieder so weit in der Andeutung verbleiben, dass ein Weitersehen möglich bleibt. Eine paradoxe Situation, und wieder eine, welche der Filmemacher recht gut meistert.
Filmfiguren sind subtiler und vielschichtiger als im Buch
In mancher Hinsicht gelingt dem Film sogar einiges besser als dem Buch. Darstellerin Carla Juri wächst einem schneller und stärker ans Herz als die sich selber schildernde Ich-Erzählerin des Romans. Der Wechsel von ihrer eigenen Perspektive zu meinem Blick auf die Figur (etwas, was der Film ja grundsätzlich stets in der umgekehrten Richtung auflösen muss als eine Ich-Erzählung) vollzieht sich fliessend. Vor allem aber schwingt bei aller Rotzigkeit von Helene stets auch ihre Verletzlichkeit und ihre Verletzung mit, etwas, mit dem sich Charlotte Roche beim Schreiben besonders schwer getan haben muss.
Wenn Helen im Buch andeutungsweise von ihren Ängsten und Träumen redet, ist das ja immer auch Selbstdarstellung. Wenn der Film das gleiche mit einer Rückblende tut, objektiviert er die Situation, etwas, was in der Filmgeschichte mit sogenannten «lügenden Rückblenden» auch immer wieder mal missbraucht worden ist. Hier ist es kein Missbrauch, sondern die Möglichkeit, Helens Handlungen und Obsessionen zu erklären, ohne dass die Figur zu dieser Erkenntnis schon selber gekommen sein muss – in einer literarischen Ich-Erzählung ungleich schwieriger zu bewerkstelligen und eine der vielen Schwächen von Roches Roman.
Protagonistin Carla Juri überzeugt
Carla Juri spielt nicht nur sehr überzeugend eine junge Frau, die deutlich jünger ist als sie selber, sie schafft es auch, der altklugen, provokativen, verkorksten und mitunter durchaus auch bösartigen Helen des Buches die Unschuld zu geben, ohne die der Film unerträglich (oder zumindest sehr viel unangenehmer) geworden wäre. Das restliche Ensemble hält wunderbar die Balance zwischen Ambivalenz und Sympathie. Axel Milberg ist als Vater ganz anders gezeichnet als die Figur im Buch, weniger aus der schwärmerischen Sicht der Tochter, mehr als realistische Figur. Und Meret Becker verleiht der tragischen Mutter ein paar lichte Momente, welche wohltuend zur Zuschauerbindung beitragen.
Nur eine professionelle Weiterführung des Hypes
Als Film ist Feuchtgebiete genauso fakultativ wie der Roman. Die Qualitäten des Buches, seine Furchtlosigkeit, die Kraft der Provokation und sein scharfer Blick auf anerzogene gesellschaftliche Konventionen spielt er nur teilweise aus, weil er als öffentliches Ereignis ja nicht zuletzt die Weiterführung des Hypes im Erscheinungsjahr des Buches darstellt.
Aber hinsichtlich seiner handwerklichen Qualitäten hat der Film dem Buch einiges voraus. Hier wurde ein Gesamtpaket aus Wirkung, Spekulation, Zurückhaltung und gezielter Provokation geschnürt, das funktioniert.
War der Roman vor allem eine spätpubertär anmutende Provokation in holperiger Ausführung, ist der Film nun ein sehr erwachsenes Fusionsprodukt aus Marktanalyse, Marketing, production values und gekonntem filmischem Handwerk. Weder Cutting edge noch Underground, sondern Post-Punk-Chic für Leute, die sich das leisten können und wollen.