Abgründe interessieren Sie – nicht nur menschliche sondern auch geologische Abgründe. Was fasziniert Sie so unter der Oberfläche?
Dazu ist Kino geeignet, dass wir tiefer in uns hineinschauen als uns das irgendein anderes Medium erlauben würde. Sicherlich, Sie können das in der Literatur auch. Aber Kino ist eben ein besonderes Instrument.
Einer meiner letzten Filme hat das ja im Titel «Into the Abyss». Das hätte auch der Titel von «Aguirre, der Zorn Gottes» sein können oder über den grossen Schweizer Skiflugmeister Walter Steiner und viele andere Filme auch. Das ist etwas, das mich am Kino immer interessiert hat: Wie beschreiben wir uns selbst? Wie erkennen wir uns selbst?
Sicherlich gehört dazu auch, dass ich versuche eine neue Bildsprache, eine neue Grammatik des Kinos zu entwickeln. Vielleicht ist es deswegen ganz gut, dass ich nicht viele Filme ansehe und dabei bin, Dinge zu zeigen, wie sie normalerweise nicht gezeigt werden. Dadurch treffen sie zum Teil auch viel tiefer.
Sie zeigen Ihren neuen Film «On Death Row» am Festival – das sind Dokumente über Menschen, die in der Todeszelle sitzen. Sie mussten sehr viel recherchieren, und wenn man sieht, wie die Leute in den Filmen, zum Beispiel die Fotografen oder die Polizisten, zum Teil Mühe haben, sich diese Szenen wieder vor Augen zu führen, fragt man sich: Haben Sie nicht irgendwann genug vom Abgrund?
Sie treffen natürlich einen Nerv: Das passiert beim Schneiden. Beim Drehen muss ich einfach funktionieren, vollkommen da sein, hellwach sein. Beim Schneiden haben Sie Zeit zur Reflexion. Da fingen sowohl der Cutter als auch ich wieder an zu rauchen.
Das Ausmass der Recherche war eigentlich sehr gering. Die Auswahl der einzelnen Insassen im Todestrakt ging relativ rasch vor sich, und alle Personen, die Sie in diesen Filmen sehen, habe ich weniger als eine Stunde in meinem Leben gesehen. Für die «Death Row»-Filme sind vielleicht zwei Stunden Material da. Das heisst, das können Sie in zwei Tagen auch schneiden.
Das sind furchtbare Fälle, die man in Boulevardzeitungen findet – mit zehn Zentimeter grossen Buchstaben betitelt. Sie haben einen ganz anderen Zugang. Wie umgeht man bei «Into the Abyss» oder jetzt bei «On Death Row» die Sensations- und Voyeurismusfalle?
In meinem Fall musste ich da nie nachdenken. Ich habe nur damals, als die Sache anfing, dem Fernsehsender «Discovery» gesagt: ‹Ihr macht viel Crime-TV. Was ich machen werde, wird dieses Genre des «Crime TVs» auf ein ganz neues, viel höheres Niveau heben.›
Das hat so Anklang beim Publikum gefunden, dass mich «Discovery» gebeten hat: ‹Um Gottes Willen, können Sie nicht ein paar Filme mehr machen?›. Mein ‹Ja, das mache ich euch gerne› war zu schnell dahin gesagt. Jetzt weiss ich: Nach vier neuen Filmen muss das ein Ende haben.
Ähnlich ist das mit einem Film, den habe ich vor fünf Tagen heraus gebracht habe, über dieses Phänomen «Texting While Driving». Das sollten eigentlich Werbespots sein, 30 Sekunden lang. Ich sagte gleich: ‹Das kann man nicht in 30 Sekunden abhandeln, ich dreh jetzt einfach mehr›. Aber das wollte der Auftraggeber nicht. Und da hab ich gesagt: ‹Das ist mir jetzt egal, was ihr denkt, ich dreh‘ jetzt einfach weiter›. Ich habe dadurch ja nicht mehr Drehtage gebraucht und habe dann einen Film zusammengestellt. Der ist auf einmal, obwohl er völlig anders ist als alles Bisherige, auf einen sensiblen Nerv getroffen.
Das heisst auf Youtube haben das über eineinhalb Millionen Menschen angeschaut und 40`000 Highschools in den USA werden diesen Film zeigen. Das sind dann nochmals 20 Millionen Zuschauer mehr. Das ist wie ein Hornissennest – im Moment. Vor zehn Minuten habe ich vor Skype gesessen und für das amerikanische Morgenfernsehen ein Interview über «Texting While Driving» gemacht.
Das ist ein Präventionsfilm?
Das ist ins Leben gerufen worden von AT&T, und es haben sich sofort die grossen Telefonprovider angehängt. Die haben gesehen, da ist etwas Wichtiges, und das kommt mit einer Vehemenz auf uns zu, die wir uns gar nicht vorstellen können. Vor drei Jahren gab‘s keine Unfälle im Zusammenhang mit SMS-Schreiben, vor zwei Jahren waren es 100‘000, jetzt ist es weit über eine Million. Das geht fast senkrecht in die Höhe. Da ist ein Paradigmenwechsel in unserer Zivilisation.
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Ich weise auf einen Fall hin, der vielleicht interessant ist. Ich konnte den nicht filmen, weil mich die Gefängnisbehörden nicht haben drehen lassen: Ein junger Mann verursacht einen Verkehrsunfall, bei dem ein Kind auf einem Fahrrad getötet wird. Während des Unfalls, während dieser paar Sekunden, war der junge Mann beim Texten und der hat diesen Text an seine Freundin geschickt. Und jetzt kommt‘s: Die Freundin sass neben ihm im Auto. Das heisst, da ist etwas dabei, sich zu verschieben und es kommt mit einer ungeheuren Vehemenz auf uns zu. Und ich habe mir gesagt, wenn ein einziger Unfall durch meinen Film nicht passiert, habe ich alles richtig gemacht. Möglicherweise wird es in absehbarer einen Knick in der Statistik geben.
Hoffentlich. Sie haben gesagt, das spreche sehr viele Leute an. Sie sind mittlerweile in den USA sehr bekannt und haben trotzdem konventionelle Dokumentarfilme gemacht. Sie Sie daran interessiert, über Youtube jüngere Leute, also eine neue Zielgruppe, zu erreichen?
Ja, ich bin daran interessiert, was sich da tut. Das ist mein erstes Mal, dass ich mit Youtube zu tun habe. Im Übrigen: Der Film war ja eigentlich gar nicht für Youtube gedacht, sondern für die Website von AT&T selbst. Youtube war eigentlich ein Seitenableger. Aber es war klar: Das ist eine Kampagne, die geht übers Internet und die geht über Schulen. Das ist ein völlig neues Terrain und das interessiert mich.
Sie haben in den USA noch mal eine neue Karriere gestartet...
Nein, nein. Ich habe nie eine Karriere gehabt. Eine Karriere heisst ja, dass man systematisch vorgeht: Jetzt mach ich als nächsten Schritt dieses und jenes, und schnell in der Bestenliste nachschauen, was ganz oben steht als Thema und daraus dann einen Film machen. Bei mir hat das nie stattgefunden. Die Filme sind immer auf mich zugekommen wie Einbrecher nachts um drei. Auf einmal kommt ein Geräusch aus der Küche, ich stehe auf, schlaftrunken, und treffe Einbrecher. Und einer kommt, wild, eine Axt schwingend, auf mich zu. Mit dem muss ich mich als erstes auseinander setzen. Und so sind die Filme alle gewesen: uneingeladene Gäste.
Dann ist das Wort Karriere vielleicht falsch...
Ja, das lehne ich ab. Das geht bei mir nicht...
Sie haben also neue Fans gefunden, junge Leute, die Sie entdecken, ein neues Filmumfeld. Ist das anders als früher, als Sie noch in Deutschland Filme gemacht haben?
Nein, das ist auch nicht anders. Ich bekomme viele Emails und es sind jetzt die 15-Jährigen, die wegen «Aguirre» nachfragen oder wegen «Herz aus Glas», ganz ganz junge und die gehen meistens mit ihren Anfragen übers Internet.
Ansonsten mach ich alle möglichen Sachen, Neuentdeckungen zum Beispiel. Ich habe eine Kunstinstallation gemacht im «Whitney Museum» für die Biennale, die so ausserordentlich erfolgreich war, dass sie permanent ausverkauft war. Das «Getty Museum» hat das jetzt gekauft, es heisst «Hearsay of the Soul» – das «Hörensagen der Seele». Ich mache auch andere Sachen, zum Beispiel spiele ich als Schauspieler in «Jack Reacher» mit Tom Cruise...
Unvergesslich!
Ja, ich mache das, weil ich das gut mache. Ich weiss, dass ich als Bösewicht richtig gut bin – auf der Leinwand!