Harvey Keitel ist in Locarno ein gefragter Mann: Als ihm am Samstagabend sein Ehrenleopard überreicht wird, ist die Piazza voll besetzt.
Überbringer ist Abel Ferrara, ein bedeutender Weggefährte von Keitel: Mit ihm hat er «Bad Lieutenant» gedreht, ein wichtiges Werk unter den knapp 150 Filmen, die Keitel bisher gemacht hat. Noch heute werde er auf diesen Film angesprochen, sagt Keitel: «Das verblüfft mich immer wieder.»
Hollywood neu definieren
Verblüffend ist das vielleicht deshalb, weil «Bad Lieutenant» bei weitem nicht sein einziger Karriere-Höhepunkt ist. Keitel war dabei, als ein New Yorker Filmstudent namens Martin Scorsese seinen allerersten Spielfilm drehte.
Und er war dabei, als ein unbekannter Angestellter einer Videothek, der in seinem ganzen Leben noch keine Sekunde Film gedreht hatte, sein erstes Drehbuch verfilmen wollte. Dieser Mann hiess Quentin Tarantino und sollte später Hollywood neu definieren – ähnlich, wie es 20 Jahre vorher Scorsese getan hat.
Grossartiges Kino gibt es überall
Ganz offensichtlich hat Harvey Keitel ein Gespür für talentierte Filmemacher. Scorsese und Tarantino dürften Keitels heutige Sicht auf Hollywood stark mitgeprägt haben.
«Hollywood kann euch nichts beibringen», richtet er sich beim Publikumsgespräch in Locarno an die Filmemacher unter den Zuhörern. «Aber ihr könnt Hollywood verändern, mit eurer Arbeit.» So wie Scorsese und Tarantino.
Als Schauspieler arbeitet Keitel bei weitem nicht nur in Hollywood. «Grossartiges Kino ist überall möglich», sagt er. Er hat oft in Europa gedreht, besonders in Italien. Mit Lina Wertmüller hat Keitel gearbeitet, mit Dario Argento oder Paolo Sorrentino. Keitels Filme unterscheiden sich in den Produktionsländern ebenso wie in den Genres und Budgets. Wenige kennen so viele verschiedene Arten, Filme zu drehen, wie Harvey Keitel.
Wer klopft da?
Verschiedene Filme? Von wegen: Eigentlich habe er immer den gleichen Film gedreht, sagt Keitel: «Kürzlich habe ich mit Martin Scorsese über unseren ersten gemeinsamen Film ‹Who's That Knocking at My Door?› gesprochen. Ich habe zu ihm gesagt: ‹Eigentlich hast du deine ganze Karriere lang immer wieder den gleichen Film gedreht.› Und da habe ich gemerkt: Auch ich habe immer wieder den gleichen Film gedreht. Wir wollen alle nur herausfinden, wer da an unsere Tür klopft.»
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Keitel beschreibt sich als Suchenden: «Ich versuche herauszufinden, wer zum Teufel ich eigentlich bin.» Auch seine Arbeit als Schauspieler ist eine Suche. Keitel schätzt das Improvisieren, das Feilen an Geschichten und Figuren.
Die beste Zeit seines Lebens
Filmemachen, das sei die Suche nach Essenz, nach Authentizität, sagt er. «Die Technik lernt man leicht. Zu lernen, wie man die Technik anwendet – das ist die Schwierigkeit. Das braucht Zeit.». Er sei immer noch daran, es zu lernen, sagt Keitel.
Er wird noch eine Weile weiterlernen. Harvey Keitel hat derzeit eine ganze Reihe von Filmen in Produktion. Trotz des goldenen Ehrenleoparden ist seine Karriere noch lange nicht abgeschlossen. Wie es sich anfühle, alt zu werden, wurde Keitel in Locarno gefragt. «Es ist die beste Zeit meines Lebens», antwortete er.