Der goldene Leopard von Locarno geht dieses Jahr nach Bulgarien, an die Filmemacherin Ralitza Petrova für ihre ungebremst niederschmetternde Bestandesaufnahme « Godless » («Gottlos»).
«Godless» – über den Verlust menschlicher Orientierung
Auch wenn der Titel die Vermutung aufkommen lässt, geht es in dem Film keineswegs um die Abwesenheit religiöser Werte, sondern eigentlich um den Verlust jeglicher menschlichen Orientierung.
In einem Land voller Korruption schlägt sich die Hauptfigur, eine Altenpflegerin, einigermassen durch, indem sie die ihr Anvertrauten gewissenlos ausnimmt, ihre Identitätskarten stiehlt und sie für illegale Geschäfte weiterverkauft. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, in welches Elend das ihre zum Teil bereits dementen Patienten stürzen wird.
«Godless» gleich mit zwei Preisen bedacht
Dass die offensichtlich furchtlose Schauspielerin Irena Ivanova, welche diese verlorene, verkommene Frau auf dem Weg zu einer Erkenntnis spielt, den Preis für die beste Darstellerin gewonnen hat, ist sehr einleuchtend.
Der Film, der seiner Autorin den goldenen Leoparden eingetragen hat, erinnert an Filme, wie sie seit etwas mehr als zehn Jahren in Rumänien entstehen, realistisch im Umgang mit Gegenwart und Vergangenheit, und zugleich eine Art Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung.
Locarno ist sich treu geblieben
Zu diesen Filmen zählt auch der Gewinner des Spezialpreises der Jury, « Inimi Cicatrizate » («Vernarbte Herzen»), vom Rumänen Radu Jude, und «Ostatnia rodzina» («The Last Family») des Polen Jan P. Matuszyński, der seinem Hauptdarsteller Andrzej Seweryn den Preis für den besten Schauspieler eingebracht hat.
Mit seiner 69. Ausgabe hat sich das Filmfestival von Locarno ganz auf seine traditionelle Stärke verlassen. Festivaldirektor Carlo Chatrian hat mit seinem Team ein Programm zusammengestellt, das in erster Linie auf globale Vielfalt, Innovation und eine gewisse Herausforderung des Publikums zielte.
Neue Filme aus Osteuropa
Insbesondere der Internationale Wettbewerb stellte fast durchwegs diese Kompromisslosigkeit unter Beweis.
Einerseits mit beinharten, sperrigen Kunstfilmen wie etwa « Der traumhafte Weg » der Deutschen Angela Schanelec, andererseits aber eben auch mit einer eindrücklichen Welle jener neuen Filme aus dem Osten Europas, die seit einigen Jahren einen immer stärker werdenden artifiziellen Realismus pflegen.
Das gibt es nur in Locarno
Und schliesslich mit jener Art von Filmen, wie man sie eigentlich fast nur in Locarno entdecken kann: Traditionsbewusst und tief verwurzelt in einer intellektuell-cinephilen Kultur wie der portugiesische Empfänger des diesjährigen Regiepreises, João Pedro Rodrigues, der mit «O Ornitólogo» («Der Vogelkundler») die Legende des heiligen Antonius von Padua als augenzwinkernden Survival-Horror inszeniert hat.
Auch auf der Piazza wurde das Publikum herausgefordert
Dass Festivaldirektor Chatrian auch auf der Piazza Grande mit ihren 8000 Freiluft-Plätzen für das grosse Publikum ebenfalls gewisse Herausforderungen programmiert hat, mit Filmen über eine verkannte Künstlerin (« Paula ») oder das Exil des Schriftstellers Stefan Zweig (« Vor der Morgenröte »), mag die Liebhaber grosser Actionkisten frustrieren, kommt aber eigentlich tatsächlich dem Publikum entgegen, wie auch der Publikumspreis für das britische Sozialdrama « I, Daniel Blake » von Altmeister Ken Loach beweist.