Es ist Winter und grau oder dunkel in Istanbul, der grössten türkischen Stadt. In diesen Winter wird Kadir aus 20-jähriger Gefängnishaft entlassen (warum er drin war, erfährt man nicht). Unter einer Bedingung: Er muss für die Geheimpolizei den Müll in seinem Wohnviertel auf verdächtige Gegenstände untersuchen.
Jeder misstraut jedem
Kadir hat einen jüngeren Bruder, Ahmet, der auch in diesem Teil der Stadt lebt und der streunende Hunde erschiessen muss. Trotz freundlichen Drängens Kadirs lässt sich Ahmet nicht auf eine Beziehung mit seinem lange abwesenden Bruder ein. Stattdessen nimmt er einen Hund auf, den er angeschossen hat.
Ahmet schliesst sich mit dem Hund immer mehr ein, öffnet nicht mehr die Tür, ignoriert das Telefon und steigert sich langsam in eine Paranoia hinein. Und wir uns als Zuschauer fast mit ihm, denn das ständige Klingeln der Türglocke, das laute Klopfen, das Telefon sind auch im Kino fast unerträglich – wie Ahmet möchte man sich hinter dem Sessel verstecken und die Ohren zuhalten.
Kadir wiederum macht sich Sorgen um den kleinen Bruder und wittert seinerseits ein Komplott von Terroristen gegen seinen Bruder – umso mehr, als ihn die Geheimpolizei drängt, nun endlich einen Terroristen in seinem Viertel aufzudecken.
Schwieriger Wiederbeginn
Das passiert aber alles ganz langsam: «Abluka» beginnt als düsteres Drama, als Geschichte eines lange abwesenden Mannes (grossartig als Kadir: Mehmet Özgür), der seinen Platz in der neuen/alten Nachbarschaft wieder sucht – und diese gleichzeitig verrät, weil er sie als potenzielle Terroristen sehen muss, wenn er ihren Müll durchsucht.
Für Kadir, der trotz Unterbringung bei einem freundlichen Ehepaar eine unglaubliche Einsamkeit ausstrahlt, ist der Wiederbeginn schwierig – und er zählt auf seinen Bruder Ahmet (ebenfalls ganz gross: Berkay Ates). Dem wiederum sind soeben Frau und Kinder davon gelaufen, der erlebt seine ganz eigene Krise.
Meisterlich erzählt
In diesem Umfeld von Terroranschlägen, von Verdächtigungen und Denunziationen schaffen es die Brüder nicht, einander näher zu kommen und sich gegenseitig Halt zu geben. Stattdessen steigern sie sich beide – jeder für sich und gegenseitig – in den Wahnsinn, bis sie sich damit gegenseitig zerstören.
Das ist mit langem Atem erzählt und hat doch unglaublich grosse Dringlichkeit. Eindrücklich zeigt der Film, was ein Klima von Misstrauen, Terror, unbedingtem Gehorsam mit Menschen anrichtet, sie zugrunde richtet.
Emin Alpers «Abluka» ist meisterliche Erzählkunst, wie man sie im Wettbewerb von Venedig dieses Jahr selten gesehen hat. Diesem Film ist durchaus ein Preis, wenn nicht gar der Goldene Löwe zuzutrauen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 11.9.2015, 17:15 Uhr