Noch sind nicht alle Filme im Wettbewerb von Venedig gelaufen, dennoch wird zwischen den Kinovorstellungen schon spekuliert, wem der Goldene Löwe gebührt. Der internationale Wettbewerb ist dieses Jahr so breit in Thematik, Genres und formaler Ausprägungen wie schon lange nicht mehr.
Science-Fiction steht neben «Neuem Realismus», Groteske neben Biografien, Dokumentation und Fiktion werden vermischt, sogar ein Animationsfilm ist zu sehen. Ziemlich oft aber steht hinter den Filmen ein reales Ereignis.
Künstlerische Freiheit erlaubt
Es fing schon an mit dem Bergsteigerfilm «Everest» ( zur Filmkritik ), der das Festival eröffnete und die wahre Geschichte einer Expedition von 1996 erzählt, die in einer Katastrophe endete.
«Geschichten, die das Leben schrieb» erzählen hier am Filmfestival von Venedig noch viele andere Filme. Manchmal relativ direkt nach einer Biografie (mit Abweichungen, die in der künstlerischen Freiheit eines Drehbuchautors oder Regisseurs gestattet sind).
So zum Beispiel die Geschichte des ersten transsexuellen Mannes, der sich zur Frau umoperieren liess in «The Danish Girl» ( zur Filmkritik ). Oder die des Bostoner Kriminellen James «Whitey» Bulger im Gangstermovie mit Johnny Depp «Black Mass» ( zur Filmkritik ).
Aus Altem mach Neues
Zwei Filme aber sind in der Kategorie «Based on a True Story» besonders aufgefallen und werden beide als heisse Kandidaten für den Goldenen Löwen gehandelt.
Sie passen formal weder in die Kategorie Spiel- noch Dokumentarfilm. Beide suchen sie sich ein historisches Ereignis und beide machen sie daraus etwas komplett Eigenes, Neues. Und beide stammen sie von altgedienten Regisseuren.
So hätte es sein können
Der israelische Filmemacher Amos Gitai hat eine kunstvolle Collage zum Tag von Rabins Ermordung gebaut. «Rabin, The Last Day» heisst der Film. Inteviews mit Weggefährten wie Shimon Peres wechseln sich ab mit Archivbildern und nachgespielten Szenen.
Gitai erzählt nicht nur nach, sondern sucht nach Erklärungen für den Mord an einem, der den Frieden schon fast herbeigeführt hatte – und fordert mit seinem Film einen neuen Friedensdialog. Man muss Gitais Kino mögen, seine Re-Enactments. Seine nachgespielten Szenen – «wie es hätte sein können» – sind mit Absicht überzeichnet, theatralisiert.
Handelt endlich!
Man könnte sagen, das verleihe ihnen grössere Direktheit und Dringlichkeit. Das kann aber genau das Gegenteil bewirken, man wird als Zuschauerin auf Distanz gehalten, die Dringlichkeit verschwindet hinter der aufgesetzten Theatralität.
Dennoch ist «Rabin, The Last Day» nicht nur ein Film über ein 20 Jahre zurück liegendes Ereignis, sondern durchaus ein Kommentar zur aktuellen Lage, eine deutliche und laute Aufforderung zum politischen Handeln.
Regisseur kommentiert aus dem Off
In vielem ist der russische Wettbewerbsbeitrag «Francofonia» von Alexander Sokurow ähnlich. Auch er erzählt von historischen Ereignissen und kommentiert gleichzeitig die Aktualität. Auch er kombiniert historische Dokumente mit nachgespielten Szenen, oder solchen, die er historischen Figuren andichtet. Dennoch ist dieser Film so ganz anders als «Rabin, The Last Day».
Sokurow ergründet die Ereignisse rund um den Pariser Louvre während der deutschen Besetzung. Er lässt den deutschen Fürsten von Metternich, der für den Kulturgüterschutz zuständig war, auf den damaligen Direktor des Louvres treffen, Jacques Jaujard.
Sokurow selber liefert in einem langen Monolog aus dem Off seine Kultur- und Geschichtsphilosophie und zieht Parallelen zu Leningrad respektive Sankt Petersburg, wo die Ermitage und ihre Kunstschätze während des Krieges geplündert und zerstört wurden.
Das stimmt nachdenklich
Ein recht bildungsbürgerliches Stück Kino ist das, wunderbar kunstvoll gebaut mit einer sehr ausgefeilten Tonspur und grossartigen Aufnahmen von Kunst.
Etwas angestaubt könnte man meinen, aber plötzlich merkt man: Das Nachdenken über Kulturgüter und ihre Bedeutung für die Menschen ist wieder sehr aktuell angesichts der Zerstörungen durch den IS.