Eines vorweg: Aufnahmen wie diese hat die Öffentlichkeit noch nie gesehen. Putin lässt sich knutschen. Putin gibt sich selbstironisch. Putin disst Jelzin. Zu sehen sind sie im Dokumentarfilm «Putin's Witnesses» von Vitaly Mansky.
Der Regisseur gilt als einer der erfahrensten und unbestechlichsten Dokumentarfilmer Russlands. Und er bekam, was heute undenkbar erscheint: ungeschützten Zugang zu Vladimir Putin.
Mansky filmt ihn in der wohl spannendsten und bedeutendsten Phase: 1999, kurz bevor Putin nach dem Rücktritt von Boris Jelzin die Präsidentschaft übernimmt.
Dabei sitzt der Regisseur mal im Wohnzimmer von Jelzin, der mit dem Enkelkind spielt oder Mühe hat, ein Mobiltelefon zu bedienen. Mal debattiert er auf dem Autorücksitz mit einem gut gelaunten Putin, der damals noch Ministerpräsident ist. Die Behind-the-Scenes-Aufnahmen zeigen eine Unmittelbarkeit, die sich stark unterscheidet vom medialen Putin-Konstrukt, das die Öffentlichkeit heute zu sehen bekommt.
Wie Mansky zu den bemerkenswerten Aufnahmen kam? Er ist ehemaliger Dokumentarfilm-Leiter beim russischen Staatsfernsehen und wurde Ende der 1990er-Jahre damit beauftragt, mehrere offizielle Profilfilme von hochrangigen Politikern zu drehen. In «Putin's Witnesses» mischt er dieses Filmmaterial mit Familienaufnahmen, die aus der gleichen Zeit stammen.
Ära der autoritären Herrschaft
Eine seiner Töchter sitzt in der Badewanne und taucht ab, als sie die Linse des Vaters entdeckt, die andere spricht schüchtern in die Kamera. Und als Manskys Familie am Silvesterabend 1999 Jelzins Neujahrsansprache schaut, regt sich seine Frau laut über den filmenden Gatten auf. Sie ist den Tränen nahe, will ihre Unsicherheit über den nächsten Präsidenten nicht gefilmt wissen. Sie ahnt, dass er eine Ära der autoritären Herrschaft einläuten wird.
Mansky selbst lässt sich nichts anmerken, schliesslich hat er zu tun. Er filmt Putin und sein Team für die Wahlkampagne, die nicht wirklich eine ist. Putin weiss schon damals wie man sich inszeniert. Das verschafft ihm einen Vorteil.
Inszenierung vs. Realität
Schon im Dokfilm über Nordkorea, «Under the Sun» (2015), kontrastiert Mansky Propagandamaterial mit dokumentarischen Aufnahmen. Sein Ziel? Der Zuschauer soll das Verhältnis zwischen Inszenierung und dahinterliegender Realität hinterfragen.
Auch «Putin's Witnesses» funktioniert so. Mit analytischem Blick und seiner Stimme im Voiceover führt er den Zuschauer durch den Film: er beschreibt Situationen, schildert eigene Beobachtungen, leitet den Zuschauer zwar, aber lädt ihn auch ein, zwischen den Zeilen zu lesen.
Pokerface Putin
Immer wieder versucht Mansky, den Menschen hinter dem starren Lächeln zu zeigen. Doch Putin, ein KGB-Veteran, lässt sich nicht in die Karten schauen. Auch dann nicht, als Mansky ein Wiedersehen mit der ehemaligen Lehrerin inszeniert, die schier platzt vor Nervosität. Sie küsst ihn so lange ab bis es peinlich wird - für alle Beteiligten.
Viel menschlicher zeigt sich Boris Jelzin, Putins Mentor, der stolz, fast väterlich auftritt. «Wenn Putin gewinnt, ist die Medienfreiheit gesichert», sagt er. Und meint es ernst.
Er dachte damals, der neu gewählte Putin würde gegen den Totalitarismus kämpfen. Mansky zeigt nicht nur, wie Jelzin sich getäuscht hat, sondern auch wie er von seinem Schützling brüskiert wird. «Ich möchte gerne mit Vladimir Vladimirovich Putin sprechen», sagt Jelzin am Silvesterabend 1999. Er will ihm zum Sieg gratulieren. Putin lässt ausrichten, er rufe zurück. Er macht es nie.
Eine manipulierte Nation
Regisseur Vitaly Mansky, der zurzeit im selbst auferlegten Exil in Lettland lebt, zeigt mit «Putin's Witnesses» ein sehr persönliches und mutiges Werk. Er zeichnet das Bild einer manipulierten Nation, ohne sich selbst als kritischen Denker auszuschliessen.
Auf der Suche nach verborgenen Warnsignalen, die auf Putins totalitäre Tendenzen hingewiesen hätten, fand Mansky bloss spärliche Beweise: etwa sein Beharren auf der Wiederherstellung umstrittener kommunistischer Symbole. Doch in seiner ersten Amtszeit herrschte immer noch ein demokratiefreundliches Klima.
Was bleibt, ist ein einsichtiger Mansky. Dessen krasses Eingeständnis macht den Film herausragend: «Der Film spiegelt den Preis wider, den ich zahlen muss, weil ich völlig naiv annahm, dass ich nur ein Zeuge war», sagt er im Off. «Doch die stillschweigende Einwilligung macht aus Zeugen Komplizen.»
Sendung: Filmfestival Zürich – Das Spezial, SRF 1, 3.10.2018, 23:00 Uhr.