Das Wichtigste in Kürze:
- Belgien ist von seiner Mehrsprachigkeit geprägt – und von einem diffusen Unzugehörigkeitsgefühl. Dieses färbt auf das belgische Kino ab.
- Oft handeln belgische Filme von Identitätskrisen und Randständigen, meist begegnen sie diesen mit Humor.
- In den letzten Jahren aufgefallen ist etwa Felix von Groeningen mit seinem international erfolgreichen Film «The Broken Circle» (2012) und «Belgica» (2016).
Mit Belgien verbindet die Schweiz bekanntlich die Mehrsprachigkeit. Aber während wir mit Stolz von «Swissness» sprechen, kennt man in Belgien stattdessen die «Belgitude»: Ein diffuses Unzugehörigkeitsgefühl – oder auch die Tendenz, die Konflikte des Heimatlandes auf seine eigene Identität zu übertragen.
Knietief drin
Als Geisteshaltung begriffen ist die «Belgitude» eine Mischung aus Scham und Trotz, kombiniert mit einer zugleich fatalistischen und versöhnenden Botschaft: Trotz Regierungskrisen und dem ewigen flämisch-wallonischen Konflikt stecken wir doch alle gemeinsam knietief drin. Und können gelegentlich auch darüber lachen.
Es begann mehrsprachig
Dieses labile Selbstverständnis färbt seit jeher auch auf das belgische Filmschaffen ab, und zwar unabhängig davon, aus welcher Sprachregion es kommt.
Ironischerweise wurde die erste belgische Grossproduktion zwar von einem Franzosen gedreht – von Alfred Machin. Sie ist aber heute in einer niederländischen Fassung erhalten.
«Maudite soit la guerre» von 1914 ist ein pazifistisches Manifest, entstanden unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg. Erzählt wird darin die Geschichte von zwei Freunden, die im Krieg zu Feinden werden.
Kaum grosse Namen
In den folgenden Jahrzehnten brachte das belgische Kino kaum Namen hervor, die heute noch geläufig wären. Der erste Autorenfilmer, der auf internationaler Ebene als ein belgischer Filmemacher wahrgenommen wurde, war André Delvaux.
Nicht ganz zufällig handeln die Filme des gebürtigen Flamen von Identitätskrisen («De man die zijn haar kort liet knippen», 1966) und vom flämisch-französischen Sprachenkonflikt («Un soir, un train», 1968).
Surreal bis nihilistisch
Doch die Werke von Délvaux sind nicht nur von den Inhalten her typisch belgisch, sondern auch in ihrer Form. Sie sind gewollt unrealistisch, sie spielen in traumartigen, innerlichen Welten und enthalten starke visuelle Kompositionen. Die nebenbei daran erinnern, dass Belgien über ein enormes grafisches Erbe verfügt: von Pieter Bruegel über James Ensor bis hin zum Tintin-Erfinder Hergé .
Wenn es heute belgische Filmschaffende gibt, die von Délvaux gelernt haben, und die sich in ähnliche surrealistische Gefilde vortrauten, wenn auch mit mehr Kitsch, dann wären dies Jaco von Dormael («Toto le héros», 1991) und Bouli Lanners («Eldorado», 2008).
Müsste man hingegen Regisseure nennen, die auf die belgische Schwermut nicht mit Poesie, sondern mit Nihilismus, Zynismus und schwarzem Humor reagierten, so wären dies Rémi Belvaux («C'est arrivé près de chez vous», 1992) und Koen Mortier («Ex Drummer», 2007).
Randständige wo man hinblickt
Egal, wo man hinblickt im belgischen Kino: Überall stösst man auf Aussenseiter, die Protagonistinnen von Chantal Akerman und die randständigen Figuren der Gebrüder Dardenne etwa.
Aber auch auf gespaltene Persönlichkeiten: Zum Beispiel im brillanten Film «Komma» (2006) von Martine Doyen, in dem der belgische Rockstar Arno in einem Leichenschauhaus aufwacht und daraufhin eine neue Identität annimmt.
Beschissenheit der Dinge
Nicht unerwähnt bleiben dürfen zum Abschluss die Filme von Felix van Groeningen. Insbesondere sein internationaler Hit «The Broken Circle Breakdown» (2012), in dem ein Bluegrass-Musiker und eine Tätowiererin den Tod ihres gemeinsamen Kleinkindes verdauen müssen.
Zuvor hatte van Groeningen einen Spiefilm gedreht mit dem französischen Titel «La Merditude des choses» (2006). Die Beschissenheit der Dinge? Das wäre dann wohl der belgischste Filmtitel aller Zeiten.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Kunst, 6.8.2017, 12:20 Uhr